Reden bei der Preisvergabe an Herrn Avi Primor
Dolf Sternberger-Preis 2014
Dolf Sternberger-Preis für öffentliche Rede 2014, Feier der Vergabe an Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert in Heidelberg am 19. Januar 2014
Laudatio von Prof. Dr. Günther Nonnenmacher
Sehr
geehrter Herr Prof. Siebke,
sehr
geehrter Herr Landfried,
lieber
Bernhard Vogel,
vor
allen Dingen lieber Avi Primor,
meine
sehr verehrten Damen und Herren,
ich
gestehe, dass ich nicht ohne eine gewisse Rührung in diesem Saal, in
dieser schönen alten Aula heute spreche – das letzte Mal, dass ich
diesen Raum betreten habe, war 1982 anläßlich einer
Festveranstaltung zum 75. Geburtstag von Dolf Sternberger. Es
sprachen der Bundespräsident Richard von Weizsäcker, und den freien
Festvortrag hielt mein anderer, großer wissenschaftlich-akademischer
Lehrer aus Heidelberg Reinhart Koselleck. Es ging um den
Patriotismus; es gab zweierlei Anknüpfungspunkte: Koselleck schrieb
an dem Artikel über den Patriotismus in seinem großen
begriffsgeschichtlichen Lexikon, und Sternberger hatte natürlich den
Begriff des Verfassungspatriotismus kreiert und ausgeführt.
Erlauben
Sie mir, noch 10 Jahre weiter zurückzugehen, um die Laudatio auf den
Träger des Dolf Sternberger-Preises 2014 mit einer persönlichen
Reminiszenz zu beginnen, die allerdings – das verspreche ich Ihnen
– schnurstracks zu Avi Primor führen wird.
Ich
saß im Sommersemester 1972 unter den Studenten, als Dolf
Sternberger, im letzten Semester vor seiner Emeritierung, eine
Vorlesung zum „Begriff des Politischen“ hielt. Das waren zum
nicht geringen Teil Kapitel aus seinem später erschienenen großen
Werk über „Drei Wurzeln der Politik“. Auch an seinem
Oberseminar zum selben Thema nahm ich teil und schrieb eine
Hausarbeit über den Begriff des Politischen bei Carl Schmitt. Ich
wusste damals nicht, dass er seinen Aufsatz mit dem Titel „Begriff
des Politischen“ 1960 als Antrittsvorlesung gehalten hatte, war
aber keck genug, den zentralen Satz dieses Textes aus
wissenschaftstheoretischen oder methodischen Gründen – das war
damals en vogue, Sternberger hatte dafür nur Spott übrig – zu
kritisieren. Er heißt: „Der Friede ist der Grund und das Merkmal
und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.“
Dass
Dolf Sternberger mit den Ausführungen seiner zwölf Jahre
zurückliegenden Antrittsvorlesung nicht voll zufrieden war, ergibt
sich im Grunde schon daraus, dass er das Thema, gewissermaßen zum
Abschied, noch einmal aufgegriffen hatte. Übrigens hat er die offene
Flanke des älteren Textes in diesem selbst, im letzten Absatz,
angesprochen: „Was aber das Völkerleben, die internationalen
Beziehungen und die Weltverfassung anbetrifft, so muss ich Sie
bitten, mich für dieses Mal mit einem Zitat begnügen und behelfen
zu dürfen …“. Es folgt ein Satz von Friedrich Gentz aus dem
Jahr 1800. Das bedeutet: Sternberger hatte sich, was bei dem Thema
Frieden, dessen Gegenbegriff ja üblicherweise Krieg heißt,
eigentlich erstaunlich ist, als akademischer Lehrer, als Forscher
oder als Publizist mit Außenpolitik, mit den internationalen
Beziehungen oder der Weltpolitik, nie vertieft beschäftigt.
Das
bedeutet nicht, dass ihn der Gegenstand nicht interessiert hätte.
Nach seiner Emeritierung – ich kann das als damaliger
Verantwortlicher für die Außenpolitik in der F.A.Z. persönlich
bezeugen – haben wir immer wieder über Fragen der
Sicherheitspolitik – es gab ja die bewegte Debatte über die
sogenannte Nachrüstung –, der Weltpolitik und der internationalen
Beziehungen gesprochen; es gibt von ihm auch einige kleinere, eher
journalistische Artikel darüber. Ich erinnere mich beispielsweise
an eine Rezension über einen Sternberger-Aufsatz, der ich die
Überschrift „Der Unkrieg“ gegeben hatte. Doch im Grund ist ihm
die reiche und im übrigen ja auch überaus spannende Thematik doch
äußerlich geblieben. Wahrscheinlich war er doch zu sehr
Aristoteliker: Nichts hat ihn ja mehr verwundert, als dass
Aristoteles, der den Makedonen doch auf seinen Eroberungsfeldzügen
in wissenschaftlicher Mission begleitet hatte, in seiner „Politik“
kein Wort über diese persönliche Anschauung und Erfahrung
internationaler Beziehungen verloren hat. Sternberger war also wohl
doch zu sehr Aristoteliker, um Krieg und Eroberung als eigentliche
Gegenstände der Politik zu akzeptieren; oder er stand ein wenig
ratlos davor – irgendwann hat er dann einmal in der F.A.Z.
geschrieben, der Aristoteles der internationalen Politik sei noch
nicht geboren. Ich glaube, im Tiefsten hielt er das, was wir als
Weltpolitik oder internationale Beziehungen bezeichnen, für
unpolitisch, jedenfalls für nicht wirklich theoriefähig.
Es
ist nun nicht so, und damit komme ich zu unserem Preisträger, dass
ich Avi Primor in diesem Raum und zu dieser Stunde zum Aristoteles
der internationalen Politik ausrufen wollte. Aber wenn es jemanden
gibt, der nicht nur zu Zeiten seines aktiven Berufslebens als
Diplomat bemüht war, den Nahost-Konflikt – den manchmal offen,
manchmal verdeckt kriegerisch ausgetragenen Streit zwischen Israelis
und Palästinensern – mit praktischen Vorschlägen zu dämpfen oder
gar zu lösen, wenn es also jemanden gibt, sage ich, der den Kern des
Problems kennt, dann ist das Avi Primor. Früh ist er, entgegen der
vorherrschenden Meinung in den politischen Parteien in Israel, für
eine Zwei-Staaten-Lösung eingetreten: Die Losung „Land gegen
Frieden“, „land for peace“, hat er sich zu eigen gemacht, noch
bevor sie zu einem – bisher unerfüllten – Prinzip des
sogenannten Friedensprozesses wurde, wohl wissend, dass dies allein
nicht ausreichen werde. Das hat dem Diplomaten, dem Botschafter
Primor manchen Ärger mit wechselnden Regierungen eingebracht, und im
Grunde ist es ein Wunder – oder besser: es zeugt von seiner auch
unter politischen Gegnern anerkannten, weil unbestreitbaren Kompetenz
–, dass er es im Auswärtigen Dienst des Staates Israel zu hohen
und höchsten Positionen gebracht hat – manchmal als eine der
wenigen „Tauben“ unter vielen „Falken“.
Der
Kern des Nahostkonflikts, und ich will das jetzt mit meinen Worten
sagen, weil ich mir nicht anmaße, die tiefer gehenden Einsichten und
Erkenntnisse Primors hier zu reproduzieren –, dieser Kern ist,
meine ich, ein kultureller:
– Israel, ein
demokratischer Staat mit einer pluralistischen, lebendigen
Gesellschaft und einer High-Tech-Wirtschaft, befürchtet im
Innersten, in einer Umwelt unterzugehen, von ihr gewissermaßen
aufgesogen zu werden, die weder demokratisch noch pluralistisch, noch
wirtschaftlich entwickelt ist, sondern sich in einem
Modernisierungsprozess befindet, der noch Jahrzehnte dauern und
teilweise gewaltsam ausgetragen wird – die „Arabellion“ mit
ihren unterschiedlichen Ausprägungen in Tunesien, in Ägypten, in
Libyen, ja auch in Syrien, ist da erst der Anfang.
– Auf der anderen
Seite befürchten die Araber in Palästina, dass sie von dem
modernen, fortschrittlichen, wirtschaftlich erfolgreichen Staat
Israel, der ihnen in jeder Hinsicht weit voraus ist, abhängig sein
werden (was stimmt) und damit verbunden ist die Angst, dass daraus
eine Art „Neokolonialismus“ entstehen wird.
Wenn
es deshalb überhaupt einen Schlüssel zur Entschärfung dieser
Problematik gibt, dann ist es das Sich-kennen-lernen, ist es die
Förderung von Bildung und Ausbildung – und zwar gemeinsam. Avi
Primor hat sich schon früh – und verstärkt nach seinem Abschied
aus dem diplomatischen Dienst – genau diesem Thema gewidmet. Seit
2004 ist er als Gründer und spiritus rector des von ihm
gegründeten Interdisziplinären Zentrums der Privatuniversität
Herzliya, einer trilateralen Institution, die israelische,
palästinensische und jordanische Wissenschaftler und Studenten
versammelt, unermüdlich tätig: als internationaler Fundraiser –
ich erinnere mich noch an den Weltsaal des Auswärtigen Amtes, wo
Ihnen Königin Beatrix der Niederlande die Ehre gab –, als
intellektueller Anreger, als Brückenbauer zwischen den Nationen und
Kulturen, zwischen Gesellschaften und zwischen Religionen. Das ist
ein Projekt für Generationen, und bisher ist es kaum angepackt
worden. Denn bevor eine wechselseitige Anerkennung, die auch die
sicherheitspolitischen Probleme regelt, nicht stattgefunden hat, kann
es wirkliche, vertiefte, nachhaltige Zusammenarbeit leider nicht
geben.
Was
die Zwischenzeit angeht, ist es niemandem klarer als dem erfahrenen
Diplomaten Avi Primor, dass der Frieden, der im Nahostkonflikt auf
absehbare Zeit überhaupt erreichbar ist, kein paradiesischer
Zustand sein wird, kein „Frieden der Erlösung“, um noch einmal
Dolf Sternberger zu zitieren, in dem es keine Leidenschaften und
widerstreitenden Interessen mehr gäbe. Er weiß aber auch, dass es
keinen „Frieden durch Herrschaft und Unterwerfung“ – auch das
ein Wort Sternbergers – geben kann, weil dieser schon den Keim des
nächsten Aufstandes – die Palästinenser nennen das „Intifada“
– in sich trägt. Es geht also um einen „Frieden der
Vereinbarung“, wobei dieser, und ich zitiere hier einen Aufsatz
Sternbergers aus dem Jahr 1983, der den Titel „Die Politik und der
Friede“ trägt, wobei dieser „eine ganze Skala von möglichen
Verfahren und Gestalten umfasst, vom stillschweigenden Einverständnis
bis zum förmlichen Vertrag und von der Annahme gemeinsamer
Kampfregeln bis zur Aufstellung einer dauerhaften Verfassung.“ Im
Nahen Osten wären schon die von Sternberger erwähnten schwachen
Formen der Vereinbarung ein Fortschritt, von einem förmlichen
Abkommen, das tragfähig und dauerhaft ist, so befürchte ich, sind
die Konfliktparteien noch weit entfernt. Das bedeutet allerdings
nicht, dass Stillstand oder Nichtstun eine Lösung wären. Wie
schwierig es allerdings ist, schon den Weg zu einer Vereinbarung,
nämlich Verhandlungen einzuschlagen, erfährt gerade der
amerikanische Außenminister John Kerry mit seiner Pendeldiplomatie
nach dem Vorbild Henry Kissingers.
Dass
beide Gesellschaften, die arabische und die israelische, sich in
ständigem Wandel befinden, macht die Sache nicht leichter. Über die
Arabellion als Modernisierungsprozess mit Fortschritten und
Rückschlägen habe ich schon gesprochen. Doch auch Israel verändert
sich, und ich weiß, dass Avi Primor manche diese Veränderungen mit
Sorge beobachtet. Verschiedene jüdische Einwanderungswellen, zuerst
aus der arabischen Welt, dann vor allem aus der ehemaligen
Sowjetunion und aus Russland, haben die israelische Politik im
Hinblick auf den Friedensprozess inzwischen zurückhaltender,
vielleicht auch unbeweglicher werden lassen. Die Siedlerbewegung ist
mächtiger geworden, und – ja, auch das muss man sagen – es gibt
inzwischen einen jüdischen Fundamentalismus, der die israelische
Gesellschaft sichtbar verändert und die säkularen, zionistischen
Ansprüche auf „Eretz Israel“, auf Judäa und Samaria, auf
manchmal fatale Weise religiös heiligt und untermauert.
Und
die Sicherheitsbedenken sind im Blick auf die Lage in der arabischen
Welt nicht geringer geworden. Es reicht ein Blick nach Syrien, wo
inzwischen ein säkularer Tyrann und terroristische Dschihadisten
miteinander kämpfen; das gilt auch für die sich ausbreitenden
blutigen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, die zu
einem Stellvertreterkrieg zwischen der revolutionären Vormacht Iran
und den konservativ-autoritären Monarchien am Golf geworden sind.
Und generell müssen wir die Schwäche demokratischer Kräfte im
westlichen Sinn feststellen und beklagen, die nach den Umwälzungen
in Tunesien, Ägypten oder Libyen zu tage getreten ist.
Avi
Primor weiß das alles besser als wir, und er kann es besser erklären
als jeder andere. Er kennt alle Hürden des nahöstlichen
Friedensprozesses, er weiß, wann und warum man sich in eine
Sackgasse verrannt hatte. Er hatte und hat allerdings auch immer eine
Idee, wie man aus diesen Sackgassen herauskommen könnte, vor allem
aber, er hat nie die Energie verloren, diese neuen Wege zu suchen und
nie den Optimismus, dass man diese Wege auch finden kann, dass man
sie finden muss. Sein Festhalten daran, dass die Nahostpolitik auf
Frieden abzielen muss, und zwar nicht auf einen Frieden durch
Beherrschung, übrigens auch nicht auf einen Frieden der Bekehrung –
auch das ein Begriff Dolf Sternbergers –, sondern auf einen Frieden
der Vereinbarung, der für beide Seiten akzeptabel ist, würde
ausreichen, um ihn zu einem würdigen Träger des Dolf
Sternberger-Preises zu machen.
Jetzt
habe ich noch nichts über Avi Primor und Deutschland gesagt, und
das kann natürlich nicht angehen. Gestatten Sie mir, auch hier mit
einer persönlichen Reminiszenz aus alten Bonner Zeiten zu beginnen,
und zwar an eine Abendgesellschaft in der damaligen Residenz des
israelischen Botschafters in Bad Godesberg. Zu den eingeladenen
Gästen gehörten unter anderem Siegfried Unseld und Ulla Berkéwicz,
Alfred Biolek und sein Lebensgefährte. Primors Gattin war eine
charmante Gastgeberin; seine Kinder, damals noch klein, brachten
Leben in die Bude, Ulla Berkéwicz ließ für sie immer wieder ihren
reichhaltigen jemenitischen Schmuck klimpern. Das Gespräch drehte
sich, im wahrsten Sinne des Wortes, um Gott und die Welt, am
wenigsten übrigens um Politik, sondern mehr um Kultur, Kunst,
Showbusiness, und dazu gehörte natürlich auch – wer wusste das
besser, als der verstorbene Marcel Reich-Ranicki? – eine Portion
Tratsch und Klatsch. Es war ein anregender, fröhlicher Abend, wie
ich ihn bei sogenannten Botschafteressen vorher und nachher nicht
mehr erlebt habe.
Warum
erzähle ich das? Weil ich damit sagen will, dass Avi Primor, wie
kein israelischer Botschafter vor und nach ihm, es fertig gebracht
hat, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu begründen. Sie
reichen weit über die Politik hinaus und halten bis heute – ins
Kulturleben, in die Wirtschaft, kurz: in alle Kreise der deutschen
Gesellschaft. Man könnte im Grunde sagen, Avi Primor sei Teil
dieser, unserer Gesellschaft geworden, und er ist es bis heute
geblieben.
Dass
dies nicht selbstverständlich ist, versteht sich bei einem Israeli,
dessen Eltern aus Europa eingewandert waren, von selbst. Primors
Mutter, Selma Goldstein, eine ausgebildete Lehrerin, emigrierte 1932
von Frankfurt nach Tel Aviv und heiratete dort den Sohn
niederländischer Einwanderer, Primors Vater. Ihre gesamte Familie
wurde im Holocaust ermordet. Ich weiß nicht, wie Avi Primor mit
schmerzhaften persönlichen Erinnerungen in seinem Herzen oder in
dunklen Stunden umgeht, die sicherlich auch ein von Grund auf
optimistischer, ja fröhlicher Mensch hat. Ich weiß nur, dass er der
Gesellschaft der Bundesrepublik, vor allem ihren Nachgeborenen, zu
denen ich gehöre, offen, ohne Ressentiment, immer neugierig,
wissbegierig und kontaktfreundlich entgegengekommen ist.
Übrigens
gilt dies auch für die deutsche Politik, deren Verhältnis zu
Israel aus vorgegebenen Gründen kompliziert und komplex war und
geblieben ist. Primor hatte das perfekt verstanden, und er hat nicht
versucht, die deutschen
Komplexe
zu instrumentalisieren. In seinem Buch „ … mit Ausnahme
Deutschlands“ heißt es dazu: „Was nun Israel und Deutschland
betrifft, so sind auf israelischer Seite, um dieses anschauliche,
wenngleich nicht unumstrittene Bild zu gebrauchen, die alten Wunden
längst verheilt, die zurückgebliebenen Narben aber immer noch
empfindlich.“ Daraufhin gab es in Israel Proteste und Forderungen,
ihn unverzüglich von seinem Botschafterposten abzuberufen. Dazu ist
es Gott sei Dank nicht gekommen, Primors Kommentar dazu ist geradezu
salomonisch: „Das künftige Verhältnis zwischen beiden Ländern
wird wie bisher zu einem großen Teil von der Stärke und
Aufrichtigkeit der gemeinsamen Verantwortung in bezug auf die
Vergangenheit abhängen.“ Es mag seltsam klingen, aber manchmal
hatte ich den Eindruck, er hat die deutsche Politik und die deutsche
Gesellschaft geschont, weil er glaubte, dass die furchtbare
Geschichte, die Deutsche und Juden trennt und verbindet, zwar nie
vergehen wird, aber nicht determinieren darf, wie die Zukunft
zwischen Israel und Deutschland gestaltet wird, wie Juden und
Deutsche miteinander umgehen sollten. Vielleicht haben ihm, dem
extrovertierten Menschen, aber auch nur Takt und Scheu den Mund
verschlossen, eine Art Scham davor, ansehen zu müssen, wie andere,
die Deutschen, sich schämen.
Ich
habe Avi Primor extrovertiert genannt. Das meint, dass er einer der
kommunikativsten Menschen ist, die ich je kennengelernt habe. Es hat
ihn geradezu getrieben, in die deutsche Öffentlichkeit zu gehen, mit
der deutschen Gesellschaft zu reden – mit allen Gruppen, auf allen
Podien. Obwohl er die deutsche Sprache erst spät erlernt hat, ist
ihm das glänzend gelungen. Ich glaube nicht, dass je ein anderer
Botschafter in Deutschland so viele öffentliche Reden gehalten hat,
so oft in Talkshows eingeladen war, bei so vielen Veranstaltungen
aufgetreten ist, wie Avi Primor. Er ist darüber nicht nur zum
Redner geworden, sondern auch zum Buchautor und, kaum zu glauben, vor
kurzem auch zum Schriftsteller.
Nur
nebenbei, lieber Avi Primor: Können Sie mir sagen, wie Sie es
fertigbringen, so viele Dinge zu tun, offenbar gleichzeitig, woher
Sie die Zeit nehmen, neben politischen Texten auch noch literarische
zu verfassen, einen Roman, der – und das will etwas heißen –
auch vor den Augen des Rezensenten im Literaturteil der F.A.Z. Gnade
gefunden hat und gelobt wurde? Es geht im übrigen in diesem Roman
mit dem Titel „Süß und ehrenvoll“ um den Ersten Weltkrieg, er
erzählt gewissermaßen parallel ein deutsches und ein französisches
Schicksal, die Geschichte zweier junger jüdischer Soldaten. Er
beschreibt die Erfahrungen, die Ernüchterung, auch die
Erniedrigungen, die das Kriegserlebnis für diese Beiden und jeden
Menschen mit sich bringt – womit wir, auf einem Umweg, nämlich
über seinen Gegensatz, dem Krieg, wieder beim Frieden angekommen
wären.
Lieber
Herr Primor, der Dolf Sternberger-Preis ist Ihnen verliehen worden
mit folgender Begründung: „Die Dolf Sternberger-Gesellschaft
würdigt mit dieser Auszeichnung das Wirken Avi Primors als eines
moralisch engagierten Brückenbauers besonders auch bei schwierigen
Konfliktlagen. Mit seiner perfekten Beherrschung der deutschen
Sprache, die er sich erst in späteren Lebensjahren erarbeitete, hat
sich Avi Primor gerade auch in Deutschland zu einem beeindruckenden
Redner entwickelt“ – zu ergänzen wäre hier: Nicht nur zu einem
beeindruckenden Redner, sondern zu einer beeindruckenden
Persönlichkeit. Die Preisträger vor Ihnen waren Willy Brandt,
Martin Walser, Wolfgang Schäuble, Manfred Rommel, Joachim Gauck,
Helmut Schmidt, Friedrich Merz, Václav Havel und Norbert Lammert.
Das waren oder sind beeindruckende Persönlichkeiten. Ich finde,
lieber Herr Primor, dass Sie wunderbar in diese Reihe passen. Ich
gratuliere Ihnen herzlich!
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Avi Primor
Rede anläßlich der Verleihung des Dolf Sternberger-Preises
am 19. Januar 2014 in Heidelberg
Magnifizenz,
sehr geehrter Herr Prof. Eitel,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich würde am liebsten jetzt verschwinden, damit ich mit meinen Worten jetzt nicht so viel Lob und Ehre verderbe. Nach all dem Gesagten weiß ich gar nicht, was ich noch sagen soll. Ich bin wirklich mehr als nur ein bißchen gerührt.
Sehr geehrter Herr Prof. Siebke, Sie sind derjenige, der mich hierher gebracht hat. Dank Ihnen kenne ich diese Universität und Heidelberg. Frau Siebke, Sie haben mich damals zum ersten Mal durch die Universität geführt. In meinem Buch „Süß und ehrenvoll“, das man heute schon so oft erwähnt hat, waren ein Teil meiner Protagonisten vor dem ersten Weltkrieg Studenten in dieser Universität, und eine Romanfigur saß sogar im Karzer, den Sie mir ebenfalls gezeigt haben. Vielen, vielen Dank!
Herr Prof. Landfried, ebenfalls vielen, vielen Dank für diesen Preis, für diese Ehrung und für Ihre Worte – freundlich und lobend, vielleicht auch übertrieben, aber Lob gefällt mir natürlich besser als Schimpfe!
Herr Ministerpräsident, Sie haben unser Treffen im Jahr 2001 erwähnt. Wir hatten uns aber schon vorher kennengelernt, 1994, ebenfalls in Ihrem Büro, und seitdem hatten wir uns mehrfach gesehen, auch in Israel. Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen und Ihnen persönlich danken zu dürfen für diesen Preis und für Ihre Worte.
Sehr geehrter Herr Dr. Nonnenmacher, ich habe das erste, was mir in den Sinn gekommen ist, ja schon gesagt: „Je suis comblé“ – Ich bin überhäuft von soviel Lob in Ihrer sachlichen Rede. Ich kann nicht alles erwidern oder kommentieren, was heute hier gesagt wurde, und werde daher versuchen, mich auf ein paar Punkte zu konzentrieren.
Zunächst einmal haben alle davon gesprochen, daß Politik ein Ziel haben sollte. Sie sagen: Politik hat ein Ziel, den Frieden; ich sage es vorsichtiger: Politik sollte dieses Ziel haben, weil ich mir nicht sicher bin, ob die Politiker das wirklich wissen? Nicht immer, nicht überall – besonders nicht, wenn ich an mein Land, an meine Region denke. In Europa, in Mittel- oder Westeuropa ist das heute vielleicht selbstverständlich. Hier ist die Politik wirklich dazu da, um Frieden zu sichern und zu erzielen. Ich würde aber schon nicht mehr so leicht von Amerika in diesem Zusammenhang sprechen.
Ist Diplomatie dazu da, um die Zusammenarbeit zwischen Völkern und Ländern und Staaten zu fördern? Ich halte das für richtig. Die Diplomatie sollte nur ein Ziel haben: Die Zusammenarbeit zwischen Ländern und Staaten. Aber ist das wirklich so? War das auch früher so? In der Vergangenheit doch schonmal überhaupt nicht! Ich weiß nicht, wie das die meisten Leute sehen, aber ich glaube, daß Politik genauso wie Diplomatie das gleiche Ziel haben sollte. Es ist wie im Handelsverkehr: Ein guter Geschäftsmann wird nie das Ziel haben, Geld dadurch zu verdienen, daß er seinen Partner betrügt. Damit kann er zwar Geld verdienen, vielleicht sogar viel – aber langfristig gesehen kann es nicht aufgehen.
Eine gute Vereinbarung in der Wirtschaft ist eine Vereinbarung, durch die beide Partner gewinnen. Und so soll es auch in der Diplomatie sein. Aber in der Vergangenheit war das nicht so. Wie haben die Engländer früher gesagt? Ein Diplomat ist eine ehrenvolle Person, deren Aufgabe es ist, für ihr Land zu betrügen und zu lügen. Ich glaube nicht, daß das heute noch so in Mittel- und Westeuropa zutrifft. Aber ist es anderswo nicht heute immer noch so?
Politik hat als Ziel den „Frieden“. Aber was ist überhaupt Frieden? Dolf Sternberger schreibt ja wirklich viel über den Sinn des Friedens, was Frieden wirklich sein soll, wie Frieden aussehen soll, und er sagt, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit des Propheten Jesaja – den himmlischen Sinn des Friedens. Ich habe das nun anläßlich dieser Gelegenheit bei Dolf Sternberger gelesen – ein Punkt, dem ich seit meiner Schulzeit nicht mehr begegnet war: „Die Wölfe werden bei den Lämmern ruhen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen miteinander treiben. Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen“ – das ist der schönste Satz – „werden Stroh essen wie die Ochsen.“ Stroh, nicht Gras, vielleicht ist es besser so, ich weiß es nicht!
Aber wer wird sich so etwas heute vorstellen können? Selbst bei den Geistlichen bin ich mir da gar nicht sicher. Dolf Sternberger selbst zitiert dann im Anschluß die Bischofskonferenz der Franzosen, die einmal genau über diesen Sinn des Friedens diskutiert haben. Was sie dazu sagen, klingt eher skeptisch, nicht sehr erfreulich. Dolf Sternberger zitiert es selbst auf französisch: „Dans un monde, où l'hommes are encore un loup pour l'homme, se transformer en mouton est peut-être provoquer le loup.“ – „In einer Welt, wo der Mensch immer noch dem Mensch ein Wolf ist, sich dem Wolf als Schafe darzustellen, ist eigentlich eine Provokation des Wolfes.“ Also selbst die Bischofskonferenz hat diese Sicht nicht wirklich so ernst genommen.
Nein, ich glaube, ein ganz anderer Betrachtungswinkel ist notwendig, und in Wahrheit hat ja auch Dolf Sternberger diese Frage ganz anders betrachtet. Er lebte ja in der Zeit des Kalten Krieges, und er ist nicht nur von der deutschen Vergangenheit geprägt, sondern auch durch den Kalten Krieg. Abschreckunsstrategie ist ein Leitwort in seinem Werk. Aber ist Abschreckungsstrategie Frieden? Er stellt diese Frage ja selbst. Das hängt davon ab, wie man es sieht. Die Abschreckungsstrategie hat nach dem zweiten Weltkrieg den Frieden gerettet, das ist klar.
Die Abschreckunsstrategie ist auch immer noch da, genau wie die Tatsache, daß immer mehr Länder Atomwaffen haben wollen. Wir leben heute mit dieser Realität in Israel, wenn wir davon ausgehen – zumindest unsere Regierung geht davon aus – daß der Iran nur das Hauptziel hat, Israel zu vernichten. Ich halte nicht viel davon; ich kenne den Iran noch aus alten Zeiten und ich weiß, daß der Iran, wenn er wirklich Staatsraison vor Augen hätte, viel eher eine Zusammenarbeit mit Israel – und Israel mit dem Iran – angestrebt hätte. Aber wir wissen, daß heute im Iran ein anderes Regime herrscht, ein Regime, das – sagen wir – ein bißchen aggressiv ist, und oft Israel die Vernichtung verspricht. Ob sie wirklich Israel vernichten wollen oder nicht, weiß ich nicht; ich weiß, daß sie auf jeden Fall Israel als Propagandamittel benutzen in ihrem Machtkampf innerhalb der islamischen Welt. Sie sind beharrlicher Feind des allgemeinen Feindes und erhalten so Macht in der islamischen Welt. Immerhin – wir können uns über ihre Motive nicht sicher sein.
Und was regiert die Beziehungen zwischen Israel und dem Iran? Genau diese Abschreckungsstrategie. Die Iraner wissen, daß uns Vergeltungsmaßnahmen zur Verfügung stehen, daß man uns nicht mit Atomwaffen angreifen kann. Ist das aber Frieden? Ist das, was wir anstreben? Natürlich nicht. Ich behaupte wieder: Frieden bedeutet eine Zusammenarbeit zwischen Nationen. Dies aber wird gelegentlich anders gesehen.
Ich kenne eine lustige Geschichte eines ehemaligen, älteren Kollegen von mir, der nicht mehr am Leben ist. Er hatte 1949, nach dem ersten Krieg im Nahen Osten, den wir den Unabhängigkeitskrieg nennen, eine interessante Erfahrung gemacht. Nach dem Waffenstillstand, der den Krieg vorerst beendete, gab es nur ein arabisches Staatsoberhaupt, das bereit war, mit Israel über einen Frieden zu verhandeln: König Abdallah von Jordanien, das damals noch Transjordanien hieß. Es gab Geheimverhandlungen im königlichen Winterpalast in Transjordanien – man mußte den Jordan überqueren, was aber keine große Angelegenheit ist, da es sich um keinen wirklich großen Fluß handelt. Die Verhandlungen haben immer nachts stattgefunden. Die Chefin der israelischen Delegation war Golda Meir, die als ein Beduine verkleidet war, um unerkannt dorthin zu gelangen.
Mein damals noch junger Kollege hatte sich auf die arabische Sprache spezialisiert und war dort Dolmetscher. Er war der jüngste, und niemand beachtete ihn abgesehen von seiner Dolmetscherarbeit. Er erzählte mir, daß der König immer eine Gewohnheit hatte. Nachdem die Verhandlungen abends begannen, machte er immer genau um Mitternacht eine Pause und lud alle zum Essen ein. Zum Speisesaal mußte man die Treppe herunter laufen.
Als nun der Dolmetscher diese Trepper heruntergegangen war, tippte ihm der König, der ihn beobachtete hatte, einmal auf die Schulter und fragte: „Na, Jüngling, wie gefällt es Dir hier? Friedensverhandlungen, wie siehst Du das?“
Ganz aufgeregt, daß der König ihn ansprach, sagte er: „Unser Herr, wenn ich Sie schon ansprechen darf, möchte ich Ihnen gerne eine Frage stellen. Darf ich das?“
„Ja natürlich, frag' doch!“
„Majestät, warum wollen Sie eigentlich mit uns den Frieden schließen? Kein anderer Mensch in der arabischen Welt möchte das!“
„Das ist gar nicht so wichtig. Was heißt das schon – Frieden schließen? Das ist die Natur der Welt. Das ist so wie der Tag nach der Nacht kommt. So werden wir Frieden schließen. Er kommt nach dem Krieg. Und danach kommt wieder die Nacht, wieder der Krieg! Man soll das alles nicht so ernst nehmen.“
Ja – wenn man so Frieden betrachtet, nur als vorübergehenden Zustand, dann bedeutet das vor allem eine Sache: Daß man in Wirklichkeit keine gemeinsamen Interessen hat. Wobei ich davon ausgehe, davon überzeugt bin, daß wir keinen himmlischen Frieden haben werden – das entspräche gar nicht der menschlichen Natur – und einen nur vorübergehenden Frieden nicht wollen, nur um die Zeit dafür zu gewinnen, den nächsten Krieg vorzubereiten, wie es schon so oft in der menschlichen Geschichte vorkam. Nein, man muß sich auf eine Sache konzentrieren: Gemeinsame Interessen. Das kann die Nationen miteinander verbinden, und das sehe ich wirklich als das heutige Ziel im Nahen Osten.
Sie haben vorhin von meinem Studienprojekt gesprochen. Was bedeutet es für mich? Ich weiß, daß ich mit meinen Studenten selbstverständlich keinen Frieden schaffen kann. Was ich dort mache, ist ein Tropfen auf den heißen Stein, nichts mehr. Den Frieden werden irgendwann die Regierungen schließen; nicht daß sie es heute besonders wollen. Ich glaube, daß weder die israelische noch die palästinensische Regierung dem Frieden gewachsen sind. Nein, das sind sie nicht. Entweder können sie ihn nicht schließen oder wollen ihn nicht schließen oder meistens beides. Aber es gibt schlicht und einfach keine Alternative dazu. Wir können einander nicht besiegen und wir können nicht ewige Besatzer sein. Irgendwann wird – vielleicht dank des amerikanischen Drucks – der Frieden geschlossen werden.
Und dann wird die Frage aufkommen: Wie kann man den Frieden auf- und ausbauen, damit er auch hält? Damit nicht, wie König Abdallah sagte, der Tag auf die Nacht, aber dann wieder die Nacht auf den Tag folgt!
Ich glaube, wenn Menschen sich kennenlernen, wenn sie sehen, daß sie keinen Gespenstern gegenüberstehen, sondern echten Menschen, die genau so sind wie sie selbst – vielleicht haben diese Menschen eine andere Meinung, vielleicht sehen sie die Welt anders. Vielleicht sind sie in einem anderen Narrativ aufgewachsen; aber egal, Menschen sind sie gleichermaßen – dann ist das der erste Schritt. Der nächste Schritt ist, miteinander zu sprechen und die Sicht der anderen zu verstehen. Man muß dem nicht zustimmen, aber man muß verstehen, was den anderen motiviert, warum er sich so verhält, wie er sich verhält, was sein Interesse ist – und dann gemeinsame Interessen finden.
Meine Studenten scheuten sich voreinander, wenn sie sich in Düsseldorf trafen. Anfänglich. Sie wollten voneinander nichts wissen, jeder blieb in seiner Gruppe. Ich war sogar erstaunt, daß nicht nur Araber und Israelis nicht zusammen kommen konnten, sondern sogar Palästinenser und Jordanier auch nicht; auch die haben ihre Vorurteile gegeneinander. Am Ende des Jahres, nachdem sie gemeinsam in einem Campus leben, gemeinsam studieren und in einem Studentenheim wohnen, haben sie nur noch einen Wunsch: Miteinander in Kontakt zu bleiben. Und deshalb habe ich auch einen Alumni-Kreis ins Leben gerufen, damit sie sich regelmäßig treffen können, entweder in Jerusalem oder in Jordanien. Wir machen das jedes Jahr. Es wird immer komplizierter, weil es immer mehr Absolventen gibt, und es auch immer mehr Geld kosten. Aber man muß das einfach machen.
Wenn wir – wenn unsere Regierungen – mal einen Frieden schließen, werden wir diese Leute brauchen, die einander kennen, miteinander arbeiten und gemeinsame Projekte entwerfen können. Man weiß das vielleicht heute nicht mehr: Als wir die Osloer Verträge unterschrieben haben, haben wir noch ein Gremium ins Leben gerufen. Die Osloer Verträge, was war das eigentlich? Das war der Beginn, der Ansatzpunkt eines Friedensprozesses. Es war kein Frieden. Es war ein Friedensprozess, den wir als einen allmählichen Frieden aufbauen wollten – wir Israelis, aber auch wir Palästinenser. Wir können den Frieden nicht so aushandeln, wie wir ihn mit Ägypten oder Jordanien ausgehandelt haben, wo wir alle Probleme auf den Verhandlungstisch gebracht und so lange verhandelt haben, bis weißer Rauch aufstieg.
Das konnten wir mit den Palästinensern vermeintlich nicht – so dachten auch die Palästinenser – weil die Probleme zu heikel, zu brisant, zu kompliziert sind, miteinander derartig verflochten, daß wir nicht alles auf einmal diskutieren können; sonst jagen wir buchstäblich alles in die Luft.
Deshalb gingen wir schrittweise vor, wir begannen mit einer Autonomie im Gaza-Streifen, dann einer erweiterten Autonomie jeweils in einer Stadt im Westjordanland. Wir wissen heute, daß dieses Verfahren gescheitert ist. Aber anfänglich dachten wir alle, daß es zum Frieden führen würde. Dann stellte sich die Frage: Wenn wir dann tatsächlich den Frieden unterschreiben – was machen wir danach? Wie können wir danach den Frieden sichern?
Deshalb haben wir gemeinsam ein Gremium ins Leben gerufen mit einem barbarischen Namen – es hieß REDWG, Regional Economic Development Working Group – an dem Israelis und Palästinenser, Jordanier und Ägypter teilgenommen haben, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten; hinzu kamen noch Kanada, Norwegen und Japan. Es war ein Gremium von Experten – keinen Politikern, nur Experten – die ein Ziel hatten: Gemeinsame regionale Entwicklungspläne zu entwerfen, gemeinsam die Region nach Schließung des Friedens zu entwickeln, uns derart miteinander zu verbinden, daß wir kein Interesse mehr haben können, gegeneinander zu kämpfen.
Begonnen hat das mit Bewässerungsprojekten, einem Problem, unter dem wir alle zu leiden haben: Wie kann man gemeinsam in einer rentablen Art und Weise Wasservorräte aufbauen; denn erst wenn man das in großen Maßstäben macht, kann es rentabel sein. Es gibt auch Verkehrsprobleme. Denn wir können in kleinen Ländern wie Israel, Jordanien oder dem Libanon keinen nationalen ICE oder TGV einsetzen, dazu brauchen wir größere Flächen, so daß auch ein solches Projekt für uns nur überregional und gemeinsam möglich und rentabel wäre. Auch ökologische Probleme kann man nur auf regionale Weise lösen, und so weiter und so fort.
Ich war ein bißchen mit diesem Projekt vertraut, weil sich dieses Gremium dank der Bundesregierung öfter in Bonn auf dem Petersberg getroffen hat, wo ich die Möglichkeit hatte, als Beobachter und Zuhörer teilzunehmen. Es klang alles wunderbar, vorausgesetzt daß die Politiker wirklich den Frieden als Ziel gehabt hätten, den Frieden geschlossen hätten und danach diese Entwürfe, diese wunderbaren Entwürfe, die für uns alle sehr günstig gewesen wären, in die Tat hätten umsetzen können. Das haben sie aber nicht getan, und ich bin wie schon gesagt auch der Meinung, daß sie das gar nicht vor Augen haben.
Wenn ich heute einen Wunsch hätte, wäre es nur eine Sache: Gott, mache Obama beharrlich. Nur, wenn die Amerikaner ihre Sache so weiterführen wie jetzt mit Kerry, wenn sie wirklich darauf beharren, könnten sie dieses Projekt wirklich schaffen. Es geht aber nicht, wenn sie die Kontrahenten alleine lassen, da diese allein der Aufgabe nicht gewachsen sind. Ob die Amerikaner so weit gehen werden? Das haben sie noch nie getan; Obama scheint etwas anders zu sein, aber wer weiß, wie lange das noch andauern wird.
Eines kann ich Ihnen aber sagen: Man wird auch die Bevölkerung davon überzeugen müssen, und das Problem der Bevölkerung, die heute noch sehr wenig von diesem Frieden versteht, ist die Sicherheit. Wenn man für die Kontrahenten auf eine glaubwürdige Art und Weise Sicherheit gewährleisten kann – für Israelis wie Palästinenser, die diese Sicherheit genauso brauchen, und ich weiß, daß die Amerikaner daran arbeiten – dann könnte man die Mehrheit auf beiden Seiten gewinnen. Nicht alle, nicht die Minderheiten, nicht die Extremisten, nicht die Fanatiker, nicht die Fundamentalisten, aber die Mehrheit der Bevölkerung. Also wäre es machbar.
Die Frage ist: Wie weit geht man vernünftigerweise? Ich habe einmal ein Kamelrennen gesehen. Ich weiß viel über Pferde und Pferderennen, aber so ein Kamelrennen war für mich neu. Die Besonderheit liegt daran, daß der Reiter weit weg vom Mund des Tieres sitzt, hoch oben auf dem Buckel, so daß er keinen direkten Kontakt zum Mund des Kamels hat. Er kann das Kamel daher – ganz anders als beim Pferd – auch nicht anspornen, weil er so hoch sitzt. Also wie macht er das, wie treibt er sein Kamel? Er hat einen langen, dünnen Stock in der Hand, mit dem er auf den Hals des Kamels schlägt. Je stärker er schlägt, desto schneller rennt das Kamel. Aber wenn er es übertreibt und zu stark schlägt, bleibt das Kamel stehen und bewegt sich nicht mehr. Da kann er dann gar nichts mehr machen, auch nicht mehr schlagen – das Kamel wird sich nicht mehr bewegen.
Als ich das sah, dachte ich, das ist wirklich die Kunst des Lebens: Man muß schlagen, man muß sich bemühen, man muß treiben; aber man muß auch die Grenze kennen. Sonst verliert man alles. Ich sage das auch in diesen Friedensverhandlungen: Natürlich will jeder alles haben, aber wenn man nicht versteht, wo die Grenzen liegen – und bei uns versteht man es nicht – dann wird man alles verlieren. Die Politik sollte das Ziel des Friedens haben.
Ich sehe es ein bißchen so wie ein Verkehrspolizist: Wenn er einen LKW aufhalten will, braucht er keinen Panzer dazu; er hebt die Hand! Und der LKW-Fahrer wird stehenbleiben. Warum? Weil im Grunde genommen in einer Gesellschaft die Menschen verstehen, daß sie die Gesetze brauchen, Grenzen brauchen, um sich selber zu schützen. Es geht nicht darum, daß der LKW den Polizisten nicht überfahren kann – er kann! Das wird er aber nicht tun, er ist davon überzeugt, daß er es nicht tun soll. Sonst hätte tatsächlich der Polizist einen Panzer gebraucht, um ihn aufzuhalten.
Ich möchte ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen, was wirklich Frieden für mich bedeutet. Eine Geschichte, die ich von Helmut Kohl gehört habe, als er noch Kanzler war. Es ist die Geschichte einer Kanone (wo wir gerade vom Frieden sprechen). Sie befindet sich in Koblenz und wird die „Greif-Kanone“ genannt, nach demjenigen benannt, der die Idee hatte, diese Kanone zu gießen. Gegossen wurde sie im 16. Jahrhundert, aber niemals benutzt. Sie ist ein reines Schmuckstück. Von dieser Kanone waren die Franzosen unter Napoleon ganz begeistert, als sie Koblenz eroberten, und brachten die Kanone als Kriegsbeute nach Paris.
1870-71 erinnerten sich die Deutschen an diese Kanone, als sie Paris eroberten. Bismarck war vorher einmal Botschafter in Paris. Aus seiner Residenz – die heute immer noch die Residenz des deutschen Botschafters in Paris ist – konnte er den Invalidendom sehen, wo diese Kanone aufgestellt war. So sorgte Bismarck als Kanzler 1871 dafür, daß man die Kanone zurück nach Koblenz brachte. 1918 brachten die Franzosen dann diese Kanone wieder nach Paris, diesmal war es Edmond Giscard, der Vater des zukünftigen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing, der übrigens, weil sein Vater damals eben Besatzungsoffizier in Koblenz war, auch in Koblenz geboren ist. 1940 wurde die Kanone dann wieder nach Koblenz und 1945 nach Paris gebracht – selbstverständlich!
Und nun sagte Kohl, er habe den Ehrgeiz, diese Kanone wieder zurück nach Koblenz zu holen. Aber diesmal nicht mehr, indem er Paris erobere – sondern durch ein Gespräch mit Mitterand über die Bedeutung dieser Kanone. Er habe Mitterand gebeten, ihm die Kanone zurückzugeben. Wozu brauchte der sie auch? Mitterand, der gar nicht von dieser Kanone wußte, war einverstanden. Warum nicht? Kohl könne die Kanone gerne zurückhaben. Aber dann stellte sich heraus, daß das gar nicht so einfach war: Die Kanone war ein Bestandteil des militärischen Museums im Dôme des Invalides, dessen Vorstand nach wie vor aus ehemaligen Offizieren und Generälen im Ruhestand bestand, die sich querstellten: Das kommt gar nicht in Frage, wir geben die Kanone nicht heraus! Die Kanone gehört dem Museum!
Daraufhin erklärte Mitterand dem Bundeskanzler, es täte ihm leid, er wollte ihm wirklich helfen, aber er könne nicht, das Museum gäbe die Kanone nunmal nicht heraus. Kohl war enttäuscht, forschte aber nach und schrieb Mitterand: Herr Präsident, ich habe herausgefunden, daß Sie der Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte sind, und das Museum gehört den französischen Streitkräften – infolge dessen können Sie einen Befehl geben, daß sie die Kanone zurückgeben sollen. Mitterand willigte ein und versuchte dies, worauf der Vorstand antwortete: Sie sind der Oberbefehlshaber, auf Ihren Befehl werden wir daher die Kanone zurückgeben, aber dann treten wir aus Protest geschlossen zurück, und die Medien werden alles erfahren. Also war wieder Mitterand in der Klemme und erklärte dem Bundeskanzler, daß er ihm nicht helfen könne. Politisch könne er sich das nicht leisten.
Daraufhin antwortete Kohl: Das nächste Mal, wenn ich nach Paris komme, laden Sie mich zu einem Essen mit dem Vorstand des Museums ein! Es kam tatsächlich dann zu diesem Gespräch, der Kanzler hat den ehemaligen Generälen erklärt, warum diese Kanone eine so große Bedeutung für die deutsch-französische Versöhnung und Geschichte habe. Zum Ende sagten die Generäle: Herr Bundeskanzler, Sie haben uns nicht überzeugt; wir werden die Kanone nicht herausgeben, das kommt nach wie vor für uns nicht in Frage. Aber wenn wir einen entsprechenden Befehl von unserem Präsidenten erhalten, werden wir nicht zurücktreten. Und daher steht die Kanone wieder in Koblenz – nur diesmal dank der Politik und nicht dank des Militärs. So soll der Frieden sein!
Vielen Dank für den Preis, der mich wirklich sehr bewegt. Ich bin nicht sicher, ob ich es wirklich verdient habe, in der Reihe zu stehen, die Sie genannt haben, diesen großen hochkarätigen Persönlichkeiten. Aber berührt bin ich äußerst, und ich sage: Wenn Sie mich ermutigen wollten, meine Bemühungen in Sachen Frieden weiterzuführen, so ist Ihnen dieses gelungen. Vielen, vielen Dank!
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