Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt
Rede anläßlich der Verleihung des Dolf Sternberger-Preises
am 15. März 2003 in Berlin
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
für die Ehrung durch diesen Preis für öffentliche Rede darf ich Ihnen, Herr Vogel, Ihnen Herr Landfried, der Sternberger-Gesellschaft insgesamt sehr herzlich danken. Besonders danke ich meinem Freund Kurt Biedenkopf für seine Laudatio. Kurt, Sie haben zwar geschmeichelt, aber als allzu menschlicher Mensch habe ich es gern gehört.
Ich muss Ihnen, meine Damen und Herren, vorweg gestehen, dass ich Dolf Sternberger nicht persönlich begegnet bin, wohl aber von weitem und vor allem als Leser - es begann wohl mit dem "Wörterbuch des Unmenschen" - es ist viele Jahrzehnte her. Der Zusammenhang von Politik und Sprache ist einerseits offensichtlich, andererseits aber schließt dieser Zusammenhang gewaltige Probleme ein. Sie reichen von der philosophisch-ethischen Begründung von Staatsform und Verfassung bis hin zu dem Gestaltwandel der Demokratie im Laufe von Jahrhunderten.
Democracy is government by discussion - das gilt immer noch. Aber der Gestaltwandel reicht heutzutage bis zur Fragwürdigkeit der Fernseh-Massendemokratie, die ganz was anderes ist als die Demokratie einer lesenden Gesellschaft, eine Demokratie, für die einprägsame lebende Bilder, die unmittelbar ins Bewußtsein von Millionen dringen, wichtiger geworden sind als etwa sorgfältig formulierte Sprache. Auf der agora im klassischen Athen musste der Politiker durch seine Sprache und mit der technischen Hilfe allein seiner Stimme eine Masse überzeugen, er konnte sie auch durch sein Charisma hinreißen. Aber immer kam es auf ihn selbst an. Heute dagegen kiommt es vor allem an auf Fernseh-Präsenz und weltweit auf CNN. Und Staatsmänner heute haben ganze Stäbe von Redenschreibern. Oft genug bedienen sie sich eines Teleprompters, der ihnen - für die Zuhörer oder die Fernsehzuschauer ganz unsichtbar! - der ihnen den Redetext Satz für Satz vor Augen spiegelt. Und so kann einer im Fernsehpublikum die Wirkungen erzeugen eines spontanen und deshalb überzeugenden staatsmännischen Redners, obschon er tatsächlich nur ein technisch-routinierter Fernsehsprecher ist. Schlimmer ist, dass das Fernsehen sich mit bloßen Sound-bites begnügt, oft genug. Das Fernsehen erzieht das Publikum zur Oberflächlichkeit und ebenso den Politiker.
Immerhin wird ein Politiker auch heute auf die Dauer nur dann überzeugen - das hoffe ich wenigstens - nur dann, wenn die Menschen a la longue eine tendenzielle Übereinstimmung zwischen seinen rednerischen Ankündigungen und seinem tatsächlichen Handeln erkennen können. Wort und Tat dürfen nicht allzu weit auseinanderklaffen.
Dolf Sternbergers Wort vom "Verfassungspatriotismus" ist im öffentlichen Bewußtsein eine gute Hilfe gewesen, zumal während der Zweiteilung Deutschlands, da manch einem die gemeinsame nationale Identität der Deutschen als zweifelhaft erschienen ist. Wenn man das ganze Lebenswerk Sternbergers, die Hunderte von Artikeln, Essays und Reden anschaut, dann wird einem durch manche seiner Beiträge politische Hilfe zuteil.
Wie mir scheint, er hat sich tiefer und umgreifender mit dem Wesen der Politik und mit dem Politiker befasst als etwa Max Weber, anderthalb Generationen vor Sternberger. Webers berühmter und immer noch lesenswerter Essay über "Politik als Beruf", 1919 gegen Ende seines Lebens und in der Phase eines tiefgreifenden Umbruchs geschrieben, dieser Essay war eine Glanzleistung Webers. In meinen Augen ist Sternbergers gesamtes Werk eine Glanzleistung. Ihm ist mit Max Weber gemeinsam, dass beide politisch hoch engagierte Bürger des Staates sind, jedoch tatsächlich auf das Reich des Denkens und Schreibens beschränkt bleiben und nicht selbst als tätige Politiker gestaltend eingreifen.
Als ich Richard von Weizsäckers jüngste Rede zu Max Webers Thema las und wenn ich auf Bernhard Vogel blicke, auf Kurt Biedenkopf oder an mich selbst denke, so wird mir deutlich: Es ist der Abstand von der Politik, der Weber und Sternberger zu ihren luziden und hilfreichen Urteilen befähigt hat. Wir hingegen, denen Politik zum Beruf geworden ist, zum Täglichen, wir haben einerseits häufig nicht genug Distanz, andererseits aber hatten wir oder haben wir noch die Möglichkeit, die gegenwärtigen Dinge tatsächlich zu beeinflussen.
Für mich hat Friedrich Christoph Oetinger eine Richtschnur gegeben, der vor gut zwei Jahrhunderten Gott gebeten hat, um die Gelassenheit gebeten hat, Dinge hinzunehmen, die er nicht ändern kann, um den Mut gebeten, die Dinge zu ändern, welche er ändern könnte - und um die Urteilskraft, beides voneinander zu unterscheiden. Dabei wissen wir demokratisch geeichten Berufspolitiker, dass zum Verändern Mut allein wirklich noch nicht ausreicht. Vielmehr ist im Vorwege die richtige Zielsetzung jeder Veränderung notwendig, und sodann das Konzept für die angemessenen Schritte und Instrumente, das heisst also: Zunächst die Anstrengung der Vernunft - und sodann der Mut, aber dann eben auch die Fähigkeit, als Redner eine Mehrheit von Ziel und von Konzept zu überzeugen.
Ich will dies Thema nicht vertiefen. Denn angesichts der Regierungserklärung von gestern, ansichts des Krieges gegen den Irak, der allem Anschein nach unmittelbar bevorsteht, würde ich mir als allzuweit von der heutigen Realität distanziert vorkommen, wenn ich die Aufgabe des Politikers als Rhetor heute morgen abstrakt in den Mittelpunkt stellte. Statt dessen möchte ich Ihnen drei eher zeitgemäße allerdings etwas längliche Bemerkungen vortragen.
Zum ersten:
Im Blick auf die deutsche Einheit hat Willy Brandt, als er sich, 1992 war das, für den Dolf Sternberger-Preis bedankte, hat er gesagt, es beginne klar zu werden, ,,... daß die Gestaltung der deutschen Einheit erst noch richtig vor uns liegt ...." Ende des Zitats. Wenn wir zum Beispiel den wichtigen ökonomischen Aspekt dieser Aufgabe betrachten, dann ist jener Satz auch heute, zehn Jahre später, leider immer noch richtig. - liegt noch vor uns. Zwar haben wir im Osten viele gute Fortschritte erreicht, so zum Beispiel in der Herstellung einer leistungsfähigen Infrastruktur - Straßen, Autobahnen, Flughäfen, Telefone, Wasser usw. - oder zum Beispiel in der Herstellung moderner Systeme sozialer Sicherheit und unerwartet hoher Sozialleistungen.
Aber der ökonomische Aufholprozess Ostdeutschlands ist seit Mitte der neunziger Jahre ins Stocken gekommen, um nicht zu sagen zum Stillstand gekommen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist immer noch doppelt so hoch wie im Westen. Immer noch fehlt es im Osten an einer befriedigenden ökonomischen Eigendynamik und Tragkraft. Darüber hinaus haben aber die immer noch sehr hohe Subventionsabhängigkeit des Ostens und die unverändert hohe Subventionsfinanzierung aus westlichen Steuer- und Beitragsaufkommen ganz entscheidend das Wachstumstempo der gesamten deutschen Volkswirtschaft behindert. Die Aufgabe der ökonomischen Vereinigung ist also keineswegs erledigt.
Im Stadtstaat Berlin kulminiert die ökonomische Besorgnis. Berlin ist zum weitaus größten Subventionsempfänger oder Subventionsverbraucher geworden und die katastrophale finanzielle Subventionsabhängigkeit dieser Metropole Europas verlangt nach einem umfassenden Konzept. Das setzt im Bund wie im Stadtstaat Detailkenntnis voraus, Übersicht voraus, setzt Erfahrung voraus, auch verlangt sie Einfallsreichtum. Und sodann wird man Mut brauchen, zumal Berlin in den kommenden Jahren im Blickpunkt der Nation und des Auslands stehen wird.
An diesen Berliner Problemen wird beispielhaft deutlich, woran es seit 1990 und jedenfalls bis gestern zur Bundestagsdebatte insgesamt gefehlt hat. Wir brauchen eine ehrliche, umfassende ökonomische Diagnose, oder Bestandsaufnahme sagt man heutzutage, eine konsequente Aussprache, die Bereitschaft zum Zuhören, sodann aber die Entschlusskraft zu konsequenter Therapie - und die Tapferheit gegenüber tausend partiellen Interessen, tausend Vorurteilen und Widerständen. Denn Deutschland befindet sich wirtschaftlich in einer kritischen Lage.
Bisher waren allzu viele der politischen Führungspersonen aber bisher allzusehr auf kleine taktische Vorteile bedacht, oder auf ihre persönliche Popularität beim Fernsehpublikum oder auf ihren Rang in albernen Meinungsumfragen. Allzu viele Manager an der Spitze von Unternehmungen und Banken oder an der Spitze von beiden Tarifvertragsparteien ragen heraus durch ihre Machtgier, viel weiter als durch Leistung, ragen heraus durch ihre Raffgier, ihre spekulative Raffgier und nicht durch ihr Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem öffentlichen Wohl. Oder anders, allzu viele der öffentlichen sichtbaren Akteure sind weit stärker am eigenen Vorteil als etwa an der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit interessiert.
Mich erinnert das an eine große Rede von Präsident Kennedy, heute vor vier Jahrzehnten, da klagt er, "...a tiny handful of executives whose pursuit of private power und profit exceeds their sense of public responsibility...." Es war die Zeit, wo es diesen mitreissenden Appell Kennedys gab: Fragt nicht, was der Staat für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für unser Land tun könnt. Ich übersetze das für uns Deutsche mal ganz frei: Wir dürfen nicht zulassen, dass Erhards und Schillers Konzept einer "sozialen Marktwirtschaft" zu raubtierkapitalistischem Spekulationismus missbraucht wird.
Ich will die gestrige Regierungserklärung Gerhard Schröders nicht beurteilen, auch nicht Frau Merkels Rede beurteilen und die Opposition insgesamt. Nach meinem vorläufigen Eindruck wollen beide nicht weit genug gehen - beide wollen nicht weit genug gehen. Immerhin hat aber die Debatte einige der wichtigen Detail-Aufgaben benannt und einige der fälligen Lösungen aufgezeigt.
Und immerhin hat der Kanzler die Opposition zur Kooperation eingeladen und die Oppositionsführerin hat ihre Bereitschaft dazu und zur nationalen Anstrengung erklärt. Man muss als Bürger beide Seiten an diesen Worten festhalten, nationaler Anstrengung. Übrigens müssen beide Seiten ja eigentlich wissen, dass nicht allein die heutige Regierung und ihre Koalitionsparteien, und auch nicht die heutige Opposition und ihre Parteien die Verantwortung trägt, sondern die ganze politische Klasse trägt die Verantwortung für die ökonomische Lage, für die Fehler und Unterlassungen, die seit 1990 zu der heutigen Lage geführt haben. Die Politiker allesamt haben versäumt, dem Osten und das schließt Berlin ein, einen ganz allgemeinen Vorteil bei den bundesgesetzlichen ökonomischen Rahmenbedingungen zu verschaffen - wofür es nota bene immer noch nicht zu spät wäre - einen allgemeinen Vorteil bei den bundesgesetzlichen ökonomischen Rahmenbedingungen! Die östlichen Länder brauchen einen bundesgesetzlich ermöglichten, weitreichenden Deregulierungs-Spielraum und außerdem brauchen sie eine spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz für ostdeutsche Wertschöpfung. Und nicht Einkommensteuererleichterung für Leute aus Westdeutschland, die einen Teil ihres Kapitals in Ostdeutschland ausgeben oder investieren.
Die politische Klasse - alle Parteien! - muss begreifen: Zwar haben wir es gegenwärtig auch mit einer konjunkturellen Rezession zu tun, aber die ist nur die Spitze des Eisbergs! Der Eisberg selbst besteht aus die Verkrampfung der Struktur, aus dem erstickenden Geflecht von tausend gesetzlichen Vorschriften. Ich meine wörtlich: tausend!.
Übrigens scheint mir nicht geboten, dass man für jede einzelne der fälligen neuen Regeln und für jede einzelne der fälligen Deregulierungen nach Konsens zielen muss. Aber das Volk muss spüren können: Die Politiker kämpfen nicht noch einmal opportunistisch für ihren parteilichen Vorteil, sondern sie kämpfen für Arbeitsplätze und für das öffentliche, für das allgemeine Wohl. Das Volk muss dies ebenso spüren können bei den Managern, bei den Verbänden und Gewerkschaften Und sie muss es eigentlich, jetzt allerdings sind es wörtlich Hoffnungen und vielleicht sogar Wunschträume, sie müsste es auch spüren können bei den Medien, die sich zum Teil in den letzten Monaten gegenseitig in ihrer Schwarzmalerei überboten haben - bis hin zu der zynischen schwarz umrandeten Traueranzeige nebst Nachruf auf die Deutschen auf dem Titelblatt.
Alle müssen wissen, dass die weltpolitischen Entwicklungen der nächsten Wochen - Stichwort Irak-Krieg - weltwirtschaftliche Verwerfungen herbeiführen können, die unsere ökonomische Lage zusätzlich erschweren werden -zusätzlich.
Der allgemeine Lebensstandard der Deutschen ist heute höher als er jemals in der Geschichte war. Alle haben längst verstanden, dass ihr Lebensstandard einstweilen nicht weiter steigen kann, sondern dass vorerst Abstriche unausweichlich sind. Die Politiker fänden Mehrheiten im Volk, wenn sie dafür sorgten, dass die Abstriche einigermaßen gerecht verteilt würden. Wer dagegen heute zusätzliche Wohltaten für einzelne Gruppen verlangt oder gar verspricht, den soll der Teufel holen.
Nun zu meiner zweiten Bemerkung:
Ich denke, als vor einigen Jahren Roman Herzog verlangt hat, das ganze Land sollte sich einen Ruck geben, da hat er Recht gehabt. Er war als deutscher Bundespräsident bescheiden genug, seine Forderung nicht zugleich auf die ganze Europäische Union zu richten, obwohl das hätte gerechtfertigt werden können. Tatsächlich wäre solch ein Appell in viele europäische Richtungen zu wünschen. Nun ist zwar das öffentliche Wohl in erster Linie ganz gewiss eine Sache des jeweils eigenen Staates und seiner eigenen Bürger. Aber schon längst kann kein europäischer Staat für sich allein das öffentliche Wohl garantieren. Vielmehr ist unsere Selbstbehauptung gegenüber den Fährnissen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik in einem noch wachsenden Maße Sache der Europäischen Union geworden.
Für mich gilt seit Ende der vierziger Jahre - damals habe ich Jean Monnet das erste Mal gehört - für mich gilt die europäische Integration als eine Aufgabe, der ich den gleichen hohen Rang beimesse wie der Bewahrung der eigenen nationalen Identität.
Nun sind wir bis 1992, d.h. einschließlich der Maastrichter Regierungskonferenz und der Schaffung der gemeinsamen Euro-Währung, wir sind bis 1992 in der Integration erstaunlich weit gekommen, viel weiter, als jemand sich das vor einem halben Jahrhundert zu Zeiten des Marshall-Plans hätte vorstellen können. Aber in den letzten zehn Jahren haben die wichtigsten Regierungen Europas nichts Wesentliches mehr gemeinsam zustande gebracht. Oder, um die heutige Wahrheit deutlich auszusprechen: Der beabsichtigte Irak-Krieg und die sehr kontroversen Positionen in London, Rom und Madrid einerseits, oder andererseits in Paris und Berlin, die haben die letzten zehn Jahre des Redens über eine angebliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik demaskiert als jahrelanges Geschwätz ohne realen Inhalt.
Schlimmer noch: Wenn sich die europäischen Regierungen nicht sehr bewußt mäßigen, dann könnten der amerikanische Machtanspruch und dann könnten sich die widersprechenden Parteinahmen der europäischen Regierungen und Medien ungewollt zur schwerwiegenden Unterbrechung, ja sogar zur Beendigung des europäischen Integrationsprozesses führen. Keine Regierung in Europa darf vor der Möglichkeit einer solchen Katastrophe ihre Augen verschließen. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir Bürger in Europa, dass wir unsere Regierungen ermahnen, sich der Kardinaltugend der Mäßigung zu befleissigen, Kardinaltugend im Sinne von Thomas von Aquino und der demokratischen Tugend des Kompromisses sich zu befleissigen.
Diese in der Weltgeschichte einzigartige Union souveräner Nationalstaate, die wir sind, die hat bereits zu Beginn der neunziger Jahre an unzureichenden Institutionen und Verfahren gelitten. Diese Institutionen hatten früher mal für 6 Staaten ausgereicht oder beinahe völlig ausgereicht, aber nun anfangs der 90ziger Jahre waren es bereits 15 Mitgliedsstaaten, demnächst sollen es sogar 25 werden. Aber es herrscht eine absolut verworrene Kompetenzlage in dieser Union, mit äußerst schwerfälligen Entscheidungsmodalitäten und mit faktischem Vetorecht jedes einzelnen Mitgliedsstaats bei jeder Entscheidung auf jeglichem Felde. Es ist seit Jahr und Tag deutlich, dass hier remedor geschaffen werden muss, zumal ein technokratischer Normenwust auf der Union lastet von über 20 000 Vorschriften, er nennt sich "acquis communitaire", aber keiner in ganze Europa kann diesen acquis noch überschauen. Dazu kommt das hohe Übergewicht der Exekutive oder anders gesagt das demokratische Defizit der ganzen Veranstaltung.
Seit 1992, seit der Maastrichter Regierungskonferenz hat nationaler Eigensinn auf vielen Seiten die dringend notwendigen institutionellen Reformen verhindert. Dann gab es anschließend noch zwei große Regierungskonferenzen in Amsterdam und Nizza, die de facto ohne jedweden Fortschritt geblieben sind. Statt dessen ist man dann Ende 2001 auf den interessanten Ausweg verfallen, nicht die Regierungen, sondern ein ad hoc neu ins Leben gerufener Konvent unter Vorsitz meines Freundes Giscard d´Éstaing, der soll nun die institutionellen Reformen entwerfen. Nicht nur 15 sondern über 100 Leute, die sollen nun die Arbeit erledigen, die die 15 nicht zustande gebracht haben. Hoffentlich kommt der Entwurf des Konvents nicht zu spät - am Ende bedarf er doch noch der Ratifikation durch jeden einzelnen der Mitgliedsstaaten, in manchen Staaten schreibt die Verfassung Volksabstimmung vor. Und der Beitritt der Mitgliedsstaaten wird zum Teil wohl zeitlich lange vor Abschluss der Ratifikationsrunde erfolgen. Und inzwischen hat im Laufe des Jahres 2003 mit hoher Wahrscheinlichkeit der Irak-Konflikt und der Hegemonie-Anspruch der Vereinigte Staaten den außenpolitischen Zusammenhalt der Europäischen Union ernsthaft in Gefahr gebracht.
Wir wissen aus der Erfahrung des voraufgegangenen halben Jahrhunderts seit dem Schuman-Plan, seit 1950, dass die Schaffung einer Union der Nationalstaaten des ganzen alten Europa sehr hohe Hürden überwinden muss. Nationale Eigenarten, Vorurteile, Prestigebedürfnisse und Eifersüchte richten immer wieder neue Hindernisse auf. Und man braucht für diesen Prozess einen sehr langen Atem. Bisher haben wir 50 Jahre gebraucht. Ich würde es heute für eine durchaus realistische Erwartung halten, wenn wir bis zur Vollendung der Europäischen Union noch ein weiteres halbes Jahrhundert brauchen würden.
Aber auf jeden Fall wird richtig bleiben, was wir seit Adenauer, seit Brandt, seit Schmidt, seit Kohl wissen, nämlich: Wir Deutschen sind unserer geopolitischen Zentrallage in der Mitte wegen und wegen unserer jüngeren Geschichte - wir Deutschen sind besonders gefährdet und wir Deutschen brauchen deshalb die Europäische Union noch notwendiger als die meisten unserer Nachbarn. Wir Deutschen bedürfen deshalb ganz besonders der Beharrlichkeit und des nicht ermüdenden Willens zu Kompromissen.
Dabei sollten lange schon alle gelernt haben, dass Zusammenarbeit und Einvernehmen mit Frankreich für uns schlechthin unverzichtbar sind. Es handelt sich hier um ein zentrales strategisches Prinzip für deutsche Politik. Ohne eine funktionstüchtige, d.h. ohne eine zuverlässige Entente mit Frankreich ist in Zukunft auf irgendeinem Felde der internationalen Politik oder auf irgendeinem Felde der Weltwirtschaft eine erfolgreiche Vertretung deutscher Interessen nicht möglich.
Nun zu meiner dritten Bemerkung:
Wir haben 1990, als die Chance, die beiden deutschen Nachkriegsstaaten zusammenzuführen, genutzt werden konnte, wir haben dabei ganz große Hilfe durch die Vereinigten Staaten von Amerika gehabt; und davor - nein, ich will noch einen Satz einfügen - dazu kam natürlich der Freiheitswille der Nationen im Osten Mitteleuropas und der Freiheitswille der Deutschen in der DDR. Den will ich nicht unterschlagen.
Davor hatten die Amerikaner und die Atlantische Allianz Berlin und Westdeutschland fast ein halbes Jahrhundert vor dem Schicksal gewalttätiger Sowjetisierung bewahrt. Vom Marshall-Plan bis zum Zwei-plus-vier-Vertrag haben wir den Amerikanern sehr vieles zu verdanken. Natürlich war die Außen- und die Bündnispolitik der USA von ihren eigenen Interessen bestimmt, jedoch sind die Wirkungen einem großen Teil der ganzen Welt zugute gekommen und so auch uns. Amerika hat vielfältig in Abstimmung mit anderen Staaten und im allgemeinen Interesse gehandelt, von der Gründung der United Nations vor einem halben Jahrhundert und der Weltbank bis hin zur vertraglichen atomaren Rüstungsbegrenzung.
Heute nun seit dem Jahr 2001 fühlt sich Amerika selbst angegriffen, fühlt sich selbst bedroht. Um den seelischen Zustand der amerikanischen Nation nach diesem Kolossalverbrechen am 11. September in New York und in Washington nachzuempfinden, um den seelischen Zustand nachempfinden zu können, sollten wir uns einmal hypothetisch vorstellen, es hätte sich nicht um vier amerikanische Passagierflugzeuge gehandelt, sondern es hätte sich gehandelt um vier vollbesetzte Passagierflugzeuge der Lufthansa. Und nicht New York wäre das Angriffsziel gewesen, sondern vielmehr dieses Gebäude hier und das Brandenburger Tor im Zentrum Berlins und die Banktürme in Frankfurt am Main - mit dreitausend Toten! In solchem Falle, wäre bei uns und in unserer öffentlichen Meinung eine Psychose ausgebrochen? Hätte in solchem Falle unsere politische Klasse kühl und vernünftig reagiert? Oder hätten in solchem Falle Teile unseres Volks von unserer Regierung verlangt, mit aller Macht zu handeln? Ich weiß es nicht, ich muss das offen lassen. Ich muss auch offen lassen, was hätte eine Bundesregierung in solcher Lage tun können?
Ich werfe diese hypothetische Frage auf, weil ich um Verständnis werben möchte für die Lage der amerikanischen Regierung - und weil ich werben möchte um Mäßigung in der Kritik ihr gegenüber. Die amerikanische Regierung verfügt über eine beinahe unermessliche militärische Macht. Aber diese Macht erweist sich im Kampf gegen den Terrorismus als ganz wenig nützlich. Also ist sie statt dessen auf den Kampf gegen die "axis of evil" und gegen den Irak verfallen.
Allerdings, man muss als Mitglied der United Nations, oder als Bündnispartner der Amerikaner, man muss unseren amerikanischen Freunden vortragen, dass es uns nicht überzeugen kann, wenn z. B: Washington sich einerseits darum bemüht, im Sicherheitsrat der United Nations oder im Nato-Rat Unterstützung zu finden für ihre Kriegsabsicht zugleich aber andererseits zu verstehen gibt, dass man Saddam jedenfalls und auch ohne UN-Beschluss mit militärischer Gewalt angreifen und depossedieren wird. Beides zusammen geht nicht. Dass die Amerikaner sich oder die Administration sich den Vorwurf der Hegemonie gefallen lassen muss, das hat sich aus ihrem Verhalten in den letzten eineinhalb Jahren fast zwangsläufig - ich korrigiere mich - in den letzten zwei Jahren fast zwangsläufig ergeben.
Die amerikanischen Politiker müssen von uns Europäern hören, dass wir ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung der United Nations haben. Nun ist das Angriffsverbot der UN-Charta im Laufe der Jahre von manchen Staaten schon verletzt worden. Eine der letzten Verletzungen übrigens war der Krieg im Kosovo, an dem wir Deutschen beteiligt waren unter flagranter Verletzung des Zwei-plus-vier-Vertrages und der Charta beteiligt waren, einschließlich der Bombardierung von Belgrad. Die Folgen des Kosovo Krieges sind keineswegs überwunden. Schauen Sie nach Belgrad heute vor drei Tagen. Die abermaligen Folgen einer abermaligen Verletzung der UN-Charta, zum Beispiel in Gestalt eines präventiven Krieges gegen den Irak, sind schwer vorhersehbar. Und die Kohärenz der UN und des Sicherheitsrates steht auf dem Spiel.
Außerdem können die Zahlen der toten Zivilisten und Soldaten sehr hoch werden. Anschließend ist eine Zunahme des vielfältigen islamistischen Extremismus und Terrorismus zu fürchten. Man kann sie jedenfalls, ohne deswegen Pessimist zu sein, ganz gewiss nicht ausschließen. Aber man muss ein extremer Optimist sein, um sich vorzustellen, dass in der Folge des Krieges eine dauerhafte Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern wahrscheinlich wird. Man kann eine allgemeine Konfrontation des Westens mit dem Islam nicht mehr ausschließen, da gibt es dann Schuldige auf vielen Seiten. Aber dem Islam gehören immerhin die Völker in sechzig Staaten der Welt an, ein Drittel aller Staaten.
So bringt also das 21. Jahrhundert vielerlei neuartige Gefahren mit sich. Die globale Bevölkerungsexplosion wird neuen illegalen Wanderungsdruck erzeugen, dazu kommen transnational Terrrorismus, Kriminalität, Drogenhandel, Seuchen, weitere Ausbreitung von Massenvernichtungswafffen und dazu kommt dann schließlich die Folgen der globalen Erwärmung. Gegen dergleichen Gefahren ist mit militärischer Potenz nicht viel auszurichten. Viel nötiger ist der Ausbau der internationalen Zusammenarbeit und der multilateralen Verträge und Systeme, die das Völkerrecht ausmachen.
All dies darf, nein, muss man der amerikanischen Regierung und den Regierungen in London und Madrid vortragen. Man darf Amerika gleichzeitig um Verständnis dafür bitten, dass die heute in Deutschland lebenden Generationen nach dem Holocaust, nach Stalingrad und Dresden einen ausgeprägten Horror haben vor Krieg und Gewalt.
Aber bei alledem, was man anderen vorträgt, denke ich muss gelten die dringende Empfehlung zur verbalen Mäßigung und zum Verzicht auf Herabsetzung - und ebenso zum Verzicht auf Anbiederung! Jedenfalls wäre es ein schwerer Nachteil für alle, wenn Scharfmacher auf beiden Seiten eine dauerhafte Schädigung des Verhältnisses zwischen der amerikanischen Nation und einer Reihe europäischer Nationen zustande bringen sollten. Eine dauerhafte Schädigung oder gar eine Verkrüppelung des europäischen Integrationsprozesses wäre mindestens genauso schlimm. Ich denke, die Europäer müssen sich keineswegs zu Instrumenten amerikanischer Hegemonie machen lassen; sie sollten versuchen, im Sinne ihrer Sicht, im Sinne ihrer Interessen Einfluss zu nehmen. Soweit und solange aber die USA darauf beharren sollten, unilateral zu entscheiden, d.h. allein zu entscheiden, allein militärisch zu handeln, so lange müssen wir hier in Europa das in gelassener Würde ertragen. - in Gelassenheit und in Würde ertragen.
IV.
Am Schluss, meine Damen und Herren, bitte ich Sie um Entschuldigung dafür, dass ich diese "öffentliche Rede" benutzt habe, meine Besorgnisse auszubreiten. Ich hoffe, Sie haben mich nicht missverstanden als einen, der aus seinem parteilichen Engagement spricht, sondern verstanden als einen Bürger, den es drängt, um Sternberger nochmals zu zitieren, den es drängt "an den gemeinsamen Angelegenheiten mitzuwirken und unseren Staat so einzurichten, dass wir gerne miteinander darin leben." Ich verbeuge mich vor dieser weisen Maxime Sternbergers.
Bei Ihnen meine Damen und Herren bedanke ich mich, die Sie eigentlich mich nur ehren wollten - und die doch außerdem die liebenswerte Geduld aufgebracht haben, meine Sorgen, meine Wünsche und meine Hoffnungen anzuhören.
Herzlichen Dank. |