Wolfgang Schäuble Dankansprache Herr Präsident Haase, Herr Ministerpräsident Vogel, Herr Professor Landfried, Professor Schröder, meine sehr geehrten Damen und Herren:
"Warum nicht sagen, daß ich mich freue?" antwortete Willy Brandt auf die erste Verleihung des Sternberger Preises. Ja, warum nicht, und also danke ich für die ehrenvolle Auszeichnung und für die lobenden Worte.
Indes bleibt bedenkenswert, warum mehr als fünfeinhalb Jahre danach um einen 10minütigen Debattenbeitrag noch so viel Aufhebens gemacht wird. Und der Grund liegt gewiß mehr in der Debatte und der Entscheidung als solcher, die - Ausnahme von der Regel parlamentarischer Debatten, ja Ausnahme vom Prinzip der Willensbildung im parlamentarischen Regierungssystem - vor Beginn der Debatte nicht feststand. Dadurch wurde ermöglicht, daß Reden im Parlament die Entscheidung beeinflußte. Man hat das dann einen "großen Tag für unser Parlament" genannt - das mag angehen; aber zur Regel taugt die Ausnahme nicht; darauf hinzuweisen kann sich der Vorsitzende der großen Mehrheitsfraktion im Bundestag auch bei so feierlichem Anlaß nicht versagen. Denn wohl jedes parlamentarische System, zumindest aber solche Verfassungsordnungen, in denen Regierung von der Mehrheit im Parlament existentiell abhängig ist, sind auf stabile, vorhersehbare Mehrheitsbildungen angewiesen, wenn zukunftsgerichtetes Handeln ermöglicht werden soll.
Die Regel ist, daß in Fraktionen und Koalitionen, als Ergebnis langer, formeller wie informeller Beratungen, am Ende durch Konsens oder Mehrheitsentscheidungen gemeinsame Positionen gebildet werden, die dann in parlamentarischen Debatten -mit Sternberger zu sprechen "mehr eine Abfolge von Kundmachungen als ein Kampf der Argumente" - vorhersehbar durchgesetzt werden. "Fraktionszwang" lautet die daran oft geübte Kritik, meines Erachtens nicht wirklich treffend und unzureichend durchdacht, denn letztlich sichert die parlamentarische Demokratie politische Freiheit durch einen Wettstreit um Mehrheiten, die zwar in Wahlen entschieden werden, die aber zuvor und danach dem permanenten Härtetest im Ringen um öffentliche Zustimmung wie um innere Kohärenz des eigenen Lagers ausgesetzt sind.
Und diese Einsicht leitet die Abgeordneten im Regelfall, und persönliche Ansichten wie Interessenbezüge werden dem untergeordnet. Die Berlin-Entscheidung am 20. Juni 1991 war auch nicht der klassische Fall von Willensbildung außerhalb der Fraktionsmechanismen, wie er sich vielleicht beim Schutz ungeborenen Lebens und demnächst beim Transplantationsgesetz findet; Sachverhalte, bei denen der Einzelne so grundsätzlich angesprochen ist, daß er die institutionellen Spielregeln dafür nicht zu akzeptieren vermag.
Aber Berlin oder Bonn als Sitz von Parlament und Regierung - eine Gewissensfrage im Sinne solcher Entscheidungen war das eigentlich nicht. Eher schon war es eine Frage persönlicher Betroffenheit oder regionaler Abhängigkeit, die dazu führte, daß die Entscheidung nicht nach Fraktionen versucht wurde.
So hat der "große Tag des Parlaments" durchaus Bedenkliches - persönliche, regionale Interessen waren in dieser Frage so involviert, daß jede der in ganz Deutschland vertretenen Parteien nicht damit rechnen konnte, daß unter ihren eigenen Anhängern die je andere Mehrheitsentscheidung ohne nennenswerte Gefahr für die Unterstützung im übrigen akzeptiert worden wäre - und deshalb wurde die Entscheidung freigegeben.
Wir sehen, der Preis hat wirklich seinen Preis, und in dem Ringen um Bonn oder Berlin wird für mich viel sichtbar, was unsere Mühen und Probleme nach dem Fall der Mauer beschreibt und erklärt. Widerstand gegen Veränderungen, Festhalten am Gewohnten, das noch so viel kritisiert doch plötzlich als liebgewonnen erkannt wird, sobald es ernstlich in Frage gestellt werden könnte. Wer hat nicht alles Liebe zur Bonner Republik entdeckt, der kurz zuvor noch Bonn als Mischung aus Provinz und Adenauerschem Klerikalismus karikieren oder unser Grundgesetz als FDGO denunzieren mochte?
Wir haben alle seit 1990 viel lernen müssen, und wer bedenkt, wie schwer sich die alte Bundesrepublik in Teilen tut, zu akzeptieren, daß das wiedervereinigte Deutschland auch etwas Neues ist und mehr Veränderung für alle bedeutet, als wir 1989/90 ahnten, der sollte auch nicht überrascht sein, daß im Osten die grundstürzenden Veränderungen auch viel Unsicherheit verursachen.
Das aber ist vielleicht - wahrscheinlich - unser größtes Problem derzeit: Die Welt verändert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit - um uns herum, wirtschaftlich nennt man das Globalisierung; aber auch unsere eigenen Lebensverhältnisse -die Veränderung von Arbeitswelt und Arbeitsmarkt durch technologische Revolution, Lebensstile und Verbrauchergewohnheiten - von der Entwicklung in unserer Medienlandschaft bis zum Tatbestand, daß in Großstädten die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte sind, die dramatische Entwicklung im Altersaufbau unserer Bevölkerung - um nur ein paar Stichworte zu nennen. Und wir tun uns schwer, mit dem Tempo dieser Veränderungen Schritt zu halten.
Vielleicht macht Erfolg auch müde. Jedenfalls muß man fragen, warum mit steigenden Lebensmöglichkeiten Zuversicht nicht notwendigerweise wächst. Wir haben ja ein für frühere Generationen kaum vorstellbares Maß an materiellen Ressourcen, Informations- und Reisemöglichkeiten, individueller Freiheit, statistischer Lebenserwartung und nicht zuletzt Perspektiven für militärisch nicht bedrohten Frieden. Und dennoch - oder deshalb? - wächst eher Pessimismus als Mut zur Zukunft.
In Jahrzehnten ansteigenden Wohlstands und sozialer Sicherheit sind Verteilungskämpfe immer um den Zuwachs geführt und aus ihm entschieden worden - kein Wunder, daß Besitzstände nahezu tabuisiert sind und - wie jede Diskussion nicht nur um Steuer- oder Rentenreform, sondern schon um Ladenöffnungszeiten zeigt - im Konzert organisierter Interessen mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.
So klagen wir über die Auswirkungen der Globalisierung, werden mit den technologisch bedingten Veränderungen der Arbeitswelt nicht fertig, sorgen uns wegen der Auswirkungen gestiegener Lebenserwartung auf Rente und Krankenversicherung, fürchten uns vor der Europäischen Währungsunion und empfinden die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit schon kaum noch als wunderbares Geschenk und Glück.
So wird aus Wohlstand Plage - und noch nicht einmal diese Erkenntnis ist neu. Was also tun?
Das erste - und vielleicht nicht das unwichtigste - scheint mir, die Ursachen von Freude und Sorgen richtig zu erkennen und angemessen zu bewerten. Bei allem Respekt für Rentenversicherungs- und Krankenversicherungsprobleme: Höhere Lebenserwartung sollte uns alles andere als mutlos machen. Daß mit immer weniger Arbeit immer mehr an Gütern produziert werden kann, ist angesichts von Not und Arbeitsbedingungen früherer Jahrhunderte auch noch nicht nur zum Verzweifeln. Daß Deutschland und Berlin nicht mehr durch Mauer und Stacheldraht waffenstarrend geteilt sind, auch damit müßte sich ja leben lassen, und die Chance, ganz Europa wirtschaftlich und politisch zu einen, ist nach Jahrhunderten europäischen Gemetzels auch eher Traum als Alp.
Das zweite sollte sein, daß wir die Herausforderungen annehmen. Risiko und Chance sind nicht nur im chinesischen Schriftzeichen miteinander verbunden, das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Und unsere Möglichkeiten sind besser denn je:
Die materiellen und technisch-wissenschaftlichen Mittel, nicht zuletzt zur Bekämpfung von Krankheit, Hunger und Not, auch zur Bewahrung der Umwelt, sind so groß wie nie zuvor. Die Verteilung von Bildungs- und Lebenschancen, auch der soziale Ausgleich in unserer Gesellschaft in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß, erschließt mehr als früher die Fähigkeiten aller Menschen zur Gestaltung der Zukunft - menschliche Ressourcen nennt man das wohl. Nach Überwindung der deutschen und europäischen Teilung eröffnet sich die Chance, den ganzen Kontinent wirtschaftlich und politisch zu einen und militärische Gewalt als Mittel zur Konfliktaustragung aus Europa dauerhaft zu verbannen. Deutschland, in der Mitte Europas von mehr Nachbarn als andere umgeben, ist zum ersten Mal in seiner Geschichte ohne substantielle Konflikte mit seiner Umwelt. Und einem einigen Europa - im atlantischen Bündnis mit Amerika - eröffnet das Ende des Ost-West-Konflikts die Möglichkeit, für Frieden und Stabilität - politisch, ökologisch, wirtschaftlich und sozial - in der ganzen Welt seinen Beitrag zu leisten.
Ich finde auch das, was sich unter dem Modewort "Globalisierung" alles verbirgt, nicht in erster Linie zum Fürchten. Unsere Art von Wohlstand ist ja ohne die internationale Arbeitsteilung überhaupt nicht denkbar - von Rohstoffen und Energieimporten über den Exportanteil unserer Volkswirtschaft bis zu den Reisemöglichkeiten nicht nur in die Karibik. Daß Entwicklungen in allen Teilen dieser Erde alle auf dieser Erde auch betreffen können, das wissen wir eigentlich spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Entdeckung der Knappheit von Ressourcen und Ökologie hat sich die Erkenntnis aktualisiert, und mit dem Wachstum der Weltbevölkerung - kombiniert mit den modernen Informations- und Transportmöglichkeiten - wird sie ganz unausweichlich.
Mehr als jemals zuvor aber haben wir seit dem Ende der Ost-West-Teilung die Möglichkeit, diese globale Entwicklung präventiv und konstruktiv zu beeinflussen - neue Chancen für Öffnung und Offenheit. Wir sollten sie nutzen.
Größere Aufgaben bei größeren Gestaltungsmöglichkeiten legen nahe, die Effizienz unserer Strukturen zu überprüfen. Mit dem Scheitern des real existierenden Sozialismus ist eigentlich nicht mehr bestritten, daß Ordnungen, die an Eigeninteresse und Eigenverantwortung des Einzelnen ansetzen, bessere Ergebnisse erzielen als solche, die zuerst in kollektiven Regelungsmechanismen denken, und zwar weil sie Leistungswille und Anpassungsfähigkeit, Phantasie und Kreativität ganz anders freisetzen, noch immer unsere wichtigsten Ressourcen.
Wenn wir angesichts weltweiter Verteilung von Rohstoffen, Menschen und Wohlstand unsere Chancen und unsere Verantwortung wahrnehmen wollen, sind wir auf ihre möglichst optimale Nutzung angewiesen. Dem wirkt ein immer dichter werdendes Netz an Regelungen tendenziell entgegen. So unverzichtbar Risikovorsorge und sozialer Ausgleich sind, so wenig darf übersehen werden, daß ein Zuviel an Reglementierung Spontaneität, Kreativität und Leistungsbereitschaft behindert, Innovation also erschwert.
In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung lassen sich die verschiedenen Aspekte in einer Zahl erfassen, in der Staatsquote, die heute präter propter bei 50 Prozent liegt. Wenn rund die Hälfte all dessen, was an Gütern und Dienstleistungen erwirtschaftet wird, durch staatliche Apparate - Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden und die gesetzlichen Sozialversicherungen - erfaßt, eingezogen, verwaltet und verteilt wird, dann bremst das an allen Ecken und Enden - von dem Phänomen, daß mit mancherlei Arbeit nicht mehr zu erwerben ist als ohne solche - Stichworte:
Lohnabstandsgebot bis zu ausländischen Saisonarbeitnehmern trotz hoher Arbeitslosigkeit - bis zur negativen grenzüberschreitenden Investitionsbilanz, also dem Export von Arbeitsplätzen. Und eine hohe Staatsquote muß fast zwangsläufig auch eine steigende Regulierungsdichte nähren, schon weil im freiheitlichen Rechtsstaat wirtschaftliche, auch soziale und politische Verfügungsmacht wenn nicht durch breite Verteilung und Wettbewerb, dann eben durch Kontrolle, also Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Verwaltung - viel, viel Bürokratie am Ende - begrenzt werden muß. Was das an Lähmung nach sich ziehen muß, läßt sich an unendlich vielen Einzelbeispielen karikieren. Jedenfalls dauert es bei uns zu lange, bis öffentliche oder private Investitionsvorhaben verwirklicht, neue Erfindungen oder Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt sind.
Dagegen hilft nur Stärkung von Eigenverantwortung und Delegation, Vorrang der kleineren, problemnäheren Regelungskreise - Subsidiarität. In der Demokratiediskussion wissen wir das grundsätzlich seit langem - Föderalismus heißt das, kommunale Selbstverwaltung, mit der schließlich schon Freiherr vom Stein Preußen reformierte, nachdem die geringere Leistungsfähigkeit des alten Systems gegenüber dem Frankreich der Revolution und Napoleons unübersehbar geworden war. Und in der Wirtschaft heißt das "lean management" - wobei ich mir eine Kommentierung dazu versage, daß die Wirtschaft im Lande von Ludwig Erhard das in den 80er Jahren von den Japanern erst wieder lernen mußte: durch das Leben, die Begegnung, den Austausch mit anderen Menschen - wie immer Sie das ausdrücken wollen - entsteht, dann eben kann Solidarität nicht auf Subsidiarität verzichten.
Keine Sorge: Die Fürsorge des Gutsbesitzers für das Gesinde ersetzt nicht den Sozialstaat. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität setzen Gleichheit von Chancen, institutionelle Vorsorge für Lebensrisiken, die den Einzelnen überfordern, und Korrekturmechanismen voraus, die sicherstellen, daß Chancengleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit auch durch die Ergebnisse des Wettbewerbs und der Verteilungskämpfe nicht erodieren.
Die soziale Marktwirtschaft war so erfolgreich, daß sie heute weltweit als Modell gilt, weil sie Effizienz des Wettbewerbs mit dem Gedanken des Ausgleichs und der Chancengleichheit verband, und so für Maß und Mäßigung sorgte.
Subsidiarität, Eigenverantwortung und Engagement vor kollektiver Versorgung und institutionellem Ausgleich, das muß auch in dem weiten Feld sozialer Vor- und Fürsorge bedacht werden. Auch Solidarität, die für die Gemeinverträglichkeit unserer Ordnung so wenig verzichtbar ist wie Freiheit und Gerechtigkeit, auch Solidarität läßt sich mit dem Subsidiaritätsprinzip besser verwirklichen. Solidarität - Verantwortung für die anderen und die Gemeinschaft - beginnt beim Einzelnen - Hilfe von anderen nur beanspruchen, wo man selbst der Hilfe bedürftig ist und sorgende Verantwortung für den Nächsten -zuerst in der Familie - als eigene Verpflichtung, und setzt sich über die kleine, nahe Gemeinschaft - von der Familie über die Nachbarschaft, die Selbsthilfegruppe, die Kirchengemeinde oder den Verein fort. Wenn Wärme im menschlichen Leben durch Gemeinschaft, Miteinander, Sozialbeziehungen, also durch das Leben, die Begegnung, den Austausch mit anderen Menschen - wie immer Sie das ausdrücken wollen - entsteht, dann eben kann Solidarität nicht auf Subsidiarität verzichten.
Das Problem bleibt immer die Balance, die Mitte und Ausgleich voraussetzt, die in der sozialen Marktwirtschaft lange gut gelang, die wir weltweit und auch bei uns zwischen Ökonomie und Ökologie noch nicht so recht gefunden haben, die wir zwischen Freiheit und Grenzen in der Rechtsordnung und in der Rechtswirklichkeit des Alltags immer neu suchen müssen.
Stabilität und Innovation, Tradition und Fortschritt, Integration bei aller Individualität, das heißt immer auch Werte. Ohne ein Gerüst an gemeinsamen Überzeugungen, Zielen und Normen, ein gemeinsames Verständnis von Rechten und Pflichten ist die notwendige Kohärenz einer Gesellschaft nicht freiheitlich, sondern nur durch Reglementierung und Kontrolle zu gewährleisten. Deshalb mußte Lenins Satz "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" in den Archipel Gulag führen, weil eben Vertrauen für den Regelfall und Kontrolle nur für die Ausnahme besser ist.
Um die Vermittlung von Werten und Zielen muß gerungen werden, vor allem aber darum, was an konkreten Schritten und Maßnahmen aus Wertorientierung zum Erreichen von Zielen notwendig, angemessen ist. Und das ist Aufgabe des politischen Diskurses. Aus der Akzeptanz von Werten und Zielen und aus der Einsicht in die Richtung konkreter Schritte wächst Legitimität von Macht in freiheitlichen Verfassungsordnungen.
Weil die Beharrungskräfte mit ökonomischem und sozialem Wachstum ebenso zunehmen wie die Regulierungsdichte, bleibt Führung notwendig, wenn Stillstand nicht das Ergebnis sein soll.
"Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es um es zu besitzen" hat uns schon Goethe mitgegeben. Wer Vergangenheit als Auftrag und Zukunft als Chance begreift, dem wird am Ende dieses Jahrhunderts in Deutschland nicht zu bange sein.
Bewahren heißt verändern. Der amerikanische Historiker Carroll Quigley hat schon vor langer Zeit die These vertreten, Kulturen drohe der Niedergang, wenn sie den erwirtschafteten Überschuß nicht mehr in die Aufgabe investierten, "Dinge auf neue Weise zu tun". Wenn sie den Überschuß - modern gesprochen - nicht mehr in innovative Leistungen stecken, sondern ihn konsumieren oder anderweitig unproduktiv nutzen, überlebte Strukturen konservieren.
Eine Gesellschaft, gleich welcher Entwicklungsstufe, vom Stadium der Jäger und Sammler bis zur hochkomplexen
Dienstleistungsgesellschaft unserer Tage kann nur überleben, wenn sie bereit ist, Neues zu wagen und dafür auch Opfer zu bringen. Der Biologe Hubert Markl, Präsident der Max-PlanckGesellschaft, hat dies als das kultur-evolutionäre Prinzip katexochen bezeichnet. Die massive Investition in die Methode von Versuch und Irrtum, "schrittweise vorzugehen, aber auch wieder zurückzuweichen", habe die gesamte Menschheitsgeschichte geprägt.
Die Methode von Versuch und Irrtum ist nicht der einzige Lernmechanismus, den der Mensch kennt, und er schließt Risiken nicht aus. Aber Risiko und Chance gehören
- wie schon gesagt - zusammen.
Auf die Bereitschaft zu lernen, immer wieder neu zu lernen, bleiben wir angewiesen wie eh und je in der Menschheitsgeschichte. Das erzwingt schon die Entwicklung von Wissenschaft und Forschung. Alle fünf Jahre, so hat man geschätzt, verdoppelt sich das menschliche Wissen. In Amerika verdoppelt sich alle dreizehn Jahre die Zahl der dort arbeitenden Naturwissenschaftler. Das bedeutet - DFG-Präsident Wolfgang Frühwald hat darauf hingewiesen - , daß allein in den nächsten zehn Jahren auf der Welt so viel publiziert und geforscht werden wird wie in den zweieinhalb tausend Jahren Wissenschaftsgeschichte zuvor.
Die Griechen, darauf hat Hannah Arendt aufmerksam gemacht, haben die Kinder und Jugendlichen schlicht die neoi, die Neuen genannt; es liege daher nahe, so Hannah Arendt weiter, "die Erneuerung einer Welt mit den von Geburt und Natur Neuen beginnen zu lassen." Ich halte das für einen bedenkenswerten Hinweis. In der Tat: Die junge Generation ist das größte Innovationspotential, das wir haben, keine technische Errungenschaft der Welt könnte so viel zur Umwälzung und Neugestaltung beitragen, wie dies dem Generationenwechsel fortlaufend gelingt.
Auf diesen Prozeß können wir setzen, weil sich die jungen Leute von der miesepetrigen und zukunftsängstlichen Stimmung, die Ältere häufig verbreiten, ganz offensichtlich nicht anstecken lassen. Die weit überwiegende Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land sieht mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft. Und was für mich ein besonders ermutigendes Zeichen ist: Auch die weit überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen im Osten sagt, sie hätten mit der neuen Zeit keine Probleme. Ich habe kürzlich in Jena mit rund 1000 Studenten über die europäische Einigung diskutiert - Inhalt und Atmosphäre der Veranstaltung, sachliche Aufgeschlossenheit und konzentriertes Interesse unterschied sich in nichts von vergleichbaren Diskussionen an westdeutschen Universitäten.
Jetzt kommt es darauf an, daß wir diese Aufgeschlossenheit und Zuversicht auch nutzen, daß wir die jungen Menschen herausfordern, daß wir sie vor Aufgaben stellen, für die es sich lohnt, die Ärmel hochzukrempeln. Wir dürfen die jungen Menschen nicht aus Sorge, sie zu überfordern, am Ende unterfordern, und ihnen damit jeden Ansporn nehmen. Diese Gefahr sehe ich besonders ausgeprägt für unsere Schulen und Hochschulen, in geringerem Maße für die Berufswelt, ausgeprägt aber auch für den sozialen und den zwischenmenschlichen Bereich. Die wachsende Kritik in einem nicht unbeträchtlichen
Teil der jüngeren Generation am Sozialstaat und seinen Einrichtungen z.B. sollten wir ernst nehmen. Ein Teil der Jüngeren kann den immer teurer werdenden Zwangseinrichtungen unserer sozialen Sicherungssysteme nicht viel abgewinnen, zweifelt an der Verteilungsgerechtigkeit zumal zwischen den Generationen und fragt nach Alternativen, die individuellen Lebensentwürfen und Sicherungsbedürfnissen mehr Raum lassen. Wir würden es uns zu leicht machen, wenn wir der jüngeren Generation darauf lediglich mit dem Vorwurf des Egoismus und mangelnder Solidarität antworten würden.
Für uns sollten die kritischen Fragen der Jüngeren vielmehr Anlaß sein, über die originären Grundsätze des modernen Sozialstaats neu nachzudenken: über richtig verstandene Solidarität, über den Gedanken der Subsidiarität, über Hilfe zur Selbsthilfe, Stärkung von Eigenverantwortung. Wir müssen neu darüber nachdenken, wie wir die Menschen wieder stärker motivieren und befähigen können, Selbstverantwortung zu übernehmen, zunächst auf die eigenen Kräfte zu vertrauen, und erst, wenn diese versagen, nach anderen, dem Staat oder wem auch immer, zu fragen.
Am Grundsatz der Subsidiarität, der möglichst weitgehenden Autonomie und Selbständigkeit kleiner Einheiten sich zu orientieren, das ist nicht nur angezeigt im gesellschaftlichen Bereich. Das gilt genauso für das Verhältnis von Gesamtstaat zu Ländern und Regionen. Gerade in einer Welt, die Trennendes überwindet, sich für Handel und Wandel öffnet, die immer mehr zusammenwächst, gerade in einer solchen Welt wird für die Menschen die Verwurzelung in Stadt und Land, in der Heimatregion immer wichtiger. Das regionale Umfeld bildet ein Gegengewicht zu allem, was da von weither heranbrandet, es hilft die eigene Identität bewahren, hilft sich orientieren inmitten von so viel Unübersichtlichkeit. Der Mensch braucht einen Ort, wo die Welt trotz aller Veränderungen noch als Ordnung erfahren wird, das muß man respektieren.
In dem Maße, in dem es uns gelingt, die regionalen Bezüge zu stärken, kräftigen wir das Wurzelwerk, aus dem sich auch die übrigen Sozialbezüge nähren - Zusammenleben in der Gemeinde, Brauchtum, Vereinsleben, Nachbarschaft. Ungleichgewichte, wie sie zwischen den Regionen unvermeidlich bestehen oder neu entstehen, wirtschaftlich, sozial, unter Umweltgesichtspunkten, Ungleichgewichte zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen, in Deutschland, in Europa, lassen sich leichter ertragen, je stärker die regionale Verwurzelung der Menschen ist. Sie hält die Menschen auch davon ab, strukturschwachen Gegenden umstandslos den Rükken zu kehren und damit im Zweifel Strukturschwächen noch zu verstärken. Die Regionalisierung ist eines der zentralen Strukturprinzipien für eine funktionierende gesamteuropäischen Ordnung.
Die europäische Einigung - das wird für uns Deutsche eine womöglich noch größere Herausforderung als die Wiedervereinigung. Nicht anders als bei unseren Nachbarn wird auf dem Weg in das vereinte Europa sukzessive alles auf den Prüfstand gestellt - Rechtswesen, staatliche Einrichtungen, Wirtschaftsund Sozialordnung -, kein Bereich bleibt davon ausgenommen. Der Zwang, eine gemeinsame Währung zu schaffen, hat die Innovationskraft in den beteiligen Ländern bereits enorm gefördert und wird dies noch weiter tun. Die Währungsunion fordert weitreichende Veränderungen und Umstellungen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, auch im Tarifbereich, was nur von Vorteil sein kann. Wenn man bedenkt, welche Energien alle Länder in kürzester Zeit mobilisiert haben, die der Währungsunion angehören wollen, dann bekommt man eine Vorstellung davon, welch riesiges Veränderungspotential noch in dem Jahrhundertprojekt der europäischen Einigung schlummert.
Wir dürfen allerdings das Vorhaben der europäischen Einigung nicht als ein "kaltes Projekt" im Sinne der Begriffsprägung Ralf Dahrendorfs betreiben - rational gut begründbar, ohne jedoch die Menschen im Innern zu ergreifen. Das muß es aber, wenn die Menschen sich mit diesem Projekt wirklich identifizieren sollen. Innerlich ergriffen wird man nicht von abstrakten Formeln, sondern nur von Dingen, die nachvollziehbar, erleb-bar sind, mit denen man persönliche Erfahrungen verbinden kann. Den Gründervätern der Europäischen Gemeinschaften war das kein Problem, ihr Kampf für eine europäische Friedensordnung speiste sich aus der Erfahrung von Krieg und Völkermord, die es fortan und für alle Zeiten zu verhindern galt. Was aber vermag uns für den Europagedanken zu begeistern?
Da ist immer noch der Gedanke der Begegnung und Verständigung zwischen den Menschen und Kulturen, der zumal die Jugend in Europa in einem Maße zu bewegen vermag, das nicht unterschätzt werden sollte. Was Frre Roger und die Gemeinschaft von Taize jedes Jahr bei Jugendlichen aus ganz Europa an spontaner Begeisterung zu wecken vermag, das beeindruckt mich immer wieder aufs neue.
Um der politischen Einigung Europas endgültig zum Durchbruch zu verhelfen, dazu bedarf es freilich mehr als gelegentlicher Begegnungen auf Urlaubsreisen. Dazu bedarf es wohl erst einer Reihe gemeinsam bestandener Herausforderungen, die uns vor Augen führen, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Mögen uns Katastrophen wie Kriege und Wirtschaftskrisen erspart bleiben - vielleicht reicht schon der Rinderwahnsinn, um wenigstens die europäischen Landwirtschaftsminister von den Vorteilen gemeinsamer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu überzeugen. Aber die breite Öffentlichkeit muß auch dann erst noch gewonnen werden.
Das europäische Einigungswerk wird erst gesichert sein, wenn auch die Staaten Mittelosteuropas Aufnahme in die Gemeinschaft gefunden haben. Erst wenn das Gefälle, wenn nicht eingeebnet, so doch schrittweise abgebaut worden ist, das der Eiserne Vorhang hinterlassen hat, wird eine Friedensordnung für Europa erreicht sein. Deutschland, so hat Wolf Jobst Siedler einmal gesagt, werde nicht umhin können, die Unbequemlichkeiten zu tragen, die mit dieser Wiederkehr des Ostens nach Europa verbunden sind. Auch der Umzug von Parlament und Regierung in die alte Hauptstadt gehöre zu diesen Unbequemlichkeiten. Gerade bei diesem Umzug gehe es, so Siedler, nicht um die deutsche, es gehe um die europäische Perspektive: "Die Entscheidung für Berlin macht nur aus einem neuen Begriff von Europa Sinn - oder sie hat keinen."
Hat man sich schon einen Preis verdient, wenn man öffentlich für eine solche Entscheidung eingetreten ist, für sie geworben, sie meinetwegen auch beeinflußt hat? Ist es des Aufhebens wert? Dolf Sternberger wäre wohl skeptisch gewesen. Das öf
fentliche Vertreten eines Standpunkts, einer Überzeugung war ihm selbstverständliche Pflicht keineswegs nur des Politikers, sondern die eines jeden Bürgers, Bürger im klassischen Verständnis eines zoon politikon.
Daß Aufsehen erregt, wer vernehmbar und begründet seine Meinung sagt, war für ihn nur Beweis, wie weit sich die bürgerliche Gesellschaft von ihren Wurzeln entfernt hat: "Ist es nicht gespenstisch, daß bei uns immer wieder ein Mensch, der eine natürliche, freie und offene Sprache in der Öffentlichkeit spricht, die Sprache des citoyen, des citizen, des mitdenkenden, mitverantwortlichen Subjekts in der politischen Gemeinschaft, die Sprache des Bürgers - daß ein solcher Mensch bei uns immer wieder für einen verwunderlichen Idealisten, für einen 'aufrechten Kämpfer', für einen Charakter gehalten wird?... Können wir denn nicht Bürger sein, ohne uns für Kämpfer auszugeben, als Kämpfer oder Idealisten teils angeschielt, teils angehimmelt zu werden von denjenigen, die selbst nichts wagen oder vielmehr die selbst glauben, nichts wagen zu können? ... Je mehr wir Bürger werden, die in Gesellschaft und Geselligkeit ihr Geschick selber leiten und ihren Staat selber bilden, desto weniger bedarf es jener römischen Attitüden des streitbaren Charakters, desto 'ziviler' kann es zugehen."
Wir leben nicht in der antiken Polis, kein Weg führt dahin zurück. Doch des Bürgersinns, der Beteiligung aller an den öffentlichen Angelegenheiten, kann auch die repräsentative Demokratie unserer Tage nicht entraten. Viele, sehr viele unserer Probleme rühren daher, daß die Menschen nur immer auf den Staat, die Regierung, die öffentliche Verwaltung oder wen sonst blicken und sich die Lösung aller Probleme von dort erwarten. Es kommt aber auf uns selbst, auf jeden einzelnen von uns an. Oder wie Präsident Clinton in seiner Einführungsrede auf den Stufen des Capitol erklärt hat: "Die Regierung ist nicht das Problem, und die Regierung ist nicht die Lösung. Wir - das Volk - wir sind die Lösung."
Bürgersein, in diesem vollen Sinne, das heißt einen klaren Blick besitzen für die Gegenwart, sich ein Urteil bilden unabhängig von den Stimmungsschwankungen des Zeitgeistes oder der Medienkommentare. Bürgersein, das heißt wissen, woher wir kommen und mehr noch, wohin wir gehen sollen. Ich finde, es gibt viel Grund zur Zuversicht für unser Land. Unser Problem ist, so Eugen Biser, daß wir es zugelassen haben, daß das Prinzip Hoffnung allzu sehr von der modernen Fortschrittsidee verdrängt und überlagert worden ist. "Der Fortschritt drängt voran; er bedeutet Antrieb, aber nicht Perspektive. Nur die Hoffnung macht hellsichtig; sie erhebt und weitet den Blick, sie macht zukunftsfähig. Wer hofft, sieht, was auf ihn zukommt, auch das Bedrohliche, und er kann sich seiner erwehren. Doch sieht er vor allem, was ihm offensteht und wo seine größeren Möglichkeiten liegen."
Die Perspektiven wieder deutlich zu machen, darum muß es uns vorrangig gehen. Ich bleibe dabei: Es ist eine faszinierende Aufgabe, uns am Ende dieses Jahrhunderts, nach all den großartigen Veränderungen, die ganz Europa Frieden und Freiheit gebracht haben, den Problemen dieser einen Welt stellen zu können, an der Bewältigung dieser Probleme mitarbeiten zu können, Verantwortung wahrnehmen zu können auch angesichts derer, die nach uns kommen werden. Erfolg werden wir freilich nur haben, wenn wir an einem Strang ziehen, wenn wir alle mittun, wenn wir unsere Kräfte gemeinsam anspannen, uns gemeinsam in die Pflicht nehmen lassen. Das heißt es, ein Bürger zu sein, in jenem vollen und schönen Sinne, den uns Dolf Sternberger vor Augen geführt hat, solche Bürger, Weltenbürger, sollten wir werden.
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