Joachim C. Fest Laudatio Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Dolf Sternberger, der Namensgeber des Preises, den wir heute vergeben, hat zeitlebens den engen Zusammenhang von Sprache und Politik erwogen. Der unlängst erschienene, vorerst letzte Band seiner Gesammelten Schriften erörtert diesen Gegenstand in einer Vielzahl von Beiträgen, die schon in den frühen dreißiger Jahren einsetzen und bis in die späten achtziger Jahre reichen. Aristoteliker, der er war, hat er den Menschen für ein politisches Wesen gehalten, das mit Sprache ausgestattet ist. Sprache und Politik waren nahezu dasselbe, die Sprache deckte alles auf. Sie erlaubte keine Täuschungen und offenbarte, wie einer es auch anstellte, Wesen, Einstellungen und Absichten.
Diese Einsicht war von Anfang an da. Am Beispiel der Sprache des Reichskanzlers Franz von Papen hat Dolf Sternberger sie bereits 1932 in einem Artikel für die "Frankfurter Zeitung" dargelegt und den interessengebundenen Charakter dieser Regierung aufgedeckt, die ein autoritär-altertümliches Herrschaftsdenken hinter pathetischen und mythologischen Begriffen verbarg. Spätere Betrachtungen galten der Sprache de Gaulles, Churchills und Kennedys, den Reden der Bundespräsidenten, dem Debattenstil des Bundestags, und nicht selten hat er aus dem sprachlichen Gestus das Porträt eines Menschen entwickelt oder auf Rang und Zustand einer Institution geschlossen. Am bekanntesten geworden ist das unmittelbar nach dem Ende des Hitlerreiches, zusammen mit GerhardStorz und Wilhelm Emanuel Süskind, herausgegebene "Wörterbuch des Unmenschen", dessen leitender Gedanke war, daß sprachliche Greuel nur Ankündigung oder Ausdruck politischer, in der Wirklichkeit verübter und zu ertragender Greuel seien.
Auch Reden sind Taten: der Titel einer der Abhandlungen Dolf Sternbergers bringt diese Einsicht auf die kürzeste Formel. Sie besagt zunächst, daß, für den Politiker zumindest, die Unterscheidung zwischen unverbindlich gemeinter Rede und verantwortungsbewußtem Handeln nicht besteht. Das eine hat soviel Gewicht wie das andere. Im zweiten Erkenntnisschritt meint die Formel aber noch mehr. Wenn Demokratie die Herrschaft durch den offenen Austrag von Meinungsgegensätzen ist, ist die Rede nicht nur ein bloßes Instrument. Sie ist soviel wie die Sache selbst. Die Schlüssigkeit der Argumentation, ihre Oberzeugungskraft, die Bereitschaft, über das enge Interesse hinauszusehen und das Ganze im Blick zu behalten, auch der Respekt vor dem Gegner und die Leidenschaft im Ringen um die jeweilige Entscheidung: das alles sagt mehr über den Zustand eines Gemeinwesens als Gesetze und Verfassungsartikel. In ihren öffentlichen Auseinandersetzungen legt eine Demokratie Zeugnis von sich selber ab.
Zu den fast schon redensartlich gewordenen Wendungen über die Bundesrepublik gehört, daß sie, anders als die glücklose Republik von Weimar, Fortüne gehabt habe. Zu dieser Fortüne gehört vieles. Nicht zuletzt, daß sie in ihren Gründungsjahren und noch einige Zeit danach mit einer großen Anzahl außergewöhnlicher rhetorischer Begabungen ausgestattet war: Ich denke an Kurt Schumacher und Ludwig Erhard, an Thomas Dehler, Carlo Schmid, Eugen Gerstenmaier, Adolf Arndt und viele andere, bis hin zu Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt und ganz gewiß auch Willy Brandt. Sie alle haben ihr großes Verdienst daran, daß die Öffentlichkeit des Landes sich in diesem Staat wiedererkannte und das hinrichtende Wort von der "Schwatzbude", das dem Weimarer Reichstag so unverlierbar angehangen hatte, niemals aufkam.
Man erwähnt jene Namen und jene Zeit unterdessen nicht ohne melancholische Empfindung. Sie liegen weit zurück. Eine Tradition haben sie nicht begründet. Ich kann den Ursachen dafür hier nicht nachgehen, sie haben mit vielem zu tun. Aber am auffallendsten ist, daß die Parlamente im Bund wie in den Ländern damals von Menschen geprägt waren, die gleichsam eine Biographie besaßen und nicht nur einen Lebenslauf. Und diese Biographie, die vielfach mit dem Scheitern des Weimarer Anlaufs zur Demokratie zu tun hatte, in jedem Einzelfall aber mit den Hitlerjahren, also mit Verfolgung , Krieg, Zerstörung und den politisch-moralischen Folgen von alledem, gab ihnen allen einen großen, leidenschaftlichen Ernst. Jede parlamentarische Auseinandersetzung war damals eine Debatte über Grundsatzfragen und bestätigte die Regel, daß ein großer rhetorischer Streit auch des großen Anlasses bedarf.
Womöglich ist dies schon einer der Hauptgründe dafür, daß jene Jahre so weit entfernt wirken. Denn das Parlament ist zusehends zu einem Ratifizierungsinstitut für die Verteilungsfragen geworden, die das wachsende Sozialprodukt aufwirft. Selbst die dramatische Phase der deutsch-deutschen Einigung, die doch wahrhaftig ein großer Anlaß war und wo zeitweilig ein historischer Tag dem voraufgegangenen den Rang ablief, ist rhetorisch nicht angemessen begleitet gewesen. Dabei gab es durchaus starke Meinungsgegensätze. Aber sie sind kaum in der direkten Konfrontation ausgetragen worden. Gewiß stößt, wer die Chronik jener Monate nachliest, auf herausragende Reden. Aber sie blieben Einzelwerk. Im Parlament jedenfalls, das der Verhandlungsort dieser Ereignisse und der daran sich entzündenden Kontroversen hätte sein müssen, gab es die Stunden nicht, die sich dem Gedächtnis eingeprägt haben und einem Gemeinwesen die Erinnerung geben. Sie bemerken sicherlich, daß ich noch dabei bin, diesem Preis und seiner Widmung Begründungen zu verschaffen. Man kann noch weiter ausholen und darauf verweisen, daß die politische Rede es in Deutschland durchweg schwergehabt hat. Sie stand immer in Verruf, ein Werkzeug der Demagogie, der aufwiegelnden Leidenschaft zu sein, und die "Herrschaft des Redners" galt bis ins späte 19. Jahrhundert geradezu als Metapher, wenn eigentlich die "Herrschaft der Straße" gemeint war. Herder wiederum hatte bemerkt, daß das Leben der Deutschen überwiegend in Schreibstuben und auf Paradeplätzen stattfinde, so daß sich eine Tradition der öffentlichen Rede nicht habe bilden können. Wichtiger als diese bloß geistreiche Pointe war vermutlich, daß in Deutschland, anders als in Frankreich oder England, die advokatorische Schule fehlte, weil die Justiz nicht das öffentliche Verfahren, sondern den geheimen Aktenprozeß bevorzugte. Auch gab es die Salons nicht oder doch nicht so verbreitet wie anderswo, um Technik und Spielregeln des politischen Disputs einzuüben. Die Paulskirchenversammlung wirkte denn auch wie eine Befreiung, und tatsächlich hat das Parlament von 1848, neben vielen im Luftigen sich verlierenden Beiträgen, glanzvolle Zeugnisse politischer Beredsamkeit hinterlassen. Aber der erste Reichstag, zwanzig Jahre später, kehrte die Verhältnisse wieder ins Gewesene zurück. Zwar war Bismarck selber ein überragender Redner, der, zumal in seinen frühen Jahren, alle demagogischen Techniken beherrschte und bedenkenlos anwandte. Aber erfüllt vom allgemeinen Soupcon gegen die politische Rede, hat er bald auf die rhetorischen Appelle, sogar auf Wahl- und Versammlungsreden überhaupt verzichtet. Selbst seine Auftritte im Reichstag beschränkten sich meist auf einen knappen, schmucklosen Verlautbarungsstil.
Kaum hatte er sie beendet, verließ er, als gingen ihn die Stellungnahmen der Bebel, Virchow oder Windhorst nichts an, in aller Regel umgehend das Parlament. Er erhebe "nicht den Anspruch", hat er noch in einer seiner letzten Reichstagsreden 1886 bemerkt, "ein Redner und ein Redekünstler zu sein, ich bin Minister, Diplomat und Staatsmann und würde mich für gekränkt halten, wenn man mich einen Redner nennte".
Solche Qualifizierungen, die ja nie aus dem Ungefähren kommen, sondern verbreitete Stimmungen ausdrücken, wirken weiter, und sie haben sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, dem Weimarer Reichstag jenes Prestige zu entziehen, das der Volksvertretung in demokratisch verfaßten Ordnungen zukommt. Alle Gegnerschaft zur Republik sammelte sich geradezu in der Verachtung des Parlaments, es stand für Entzweiung statt Einheit, für Durcheinander statt Ordnung, für die Geringschätzung energischen Handelns, indem jedes Vorhaben zum Gegenstand eines nicht endenden Palavers erniedrigt wurde. Die radikalen Flügelparteien von links und rechts haben es, vor allem in den späten Jahren der Republik, vergleichsweise leicht gehabt, an diesen Affekt anzuknüpfen. Aber auch die Parteien der Mitte, Sozialdemokraten, Zentrum und bürgerliche Demokraten, verloren schon frühzeitig ihr Zutrauen in die Funktionstüchtigkeit der Volksvertretung. Statt durch das immer neue, gewiß oft mühselige Für und Wider der öffentlichen Debatte nicht zuletzt die eigene Verfassungsposition zu behaupten, ergaben sie sich nur allzu bereitwillig dem Notverordnungsregime, das im Grunde nichts anderes bedeutete als die Selbstabschaffung des Parlaments. Das Ermächtigungsgesetz vom März 1933, dem die Parteien mit der rühmenswerten Ausnahme der Sozialdemokraten zustimmten, besiegelte nur einen Abdankungsprozeß, der lange zuvor schon eingesetzt hatte.
Der Bundestag hat den traditionellen antiparlamentarischen Affekt zwar weitgehend ausräumen können, und sein Rang ist ernsthaft kaum umstritten. Aber zu dem Ort, an dem das Land in öffentlicher Auseinandersetzung seine Angelegenheiten regelte, ist er gleichwohl nicht geworden. Das hat weniger damit zu tun, daß seine Stellung deutlich schwächer ist als die des einstigen Reichstags. Immerhin ist er das von der Verfassung gewollte Forum far den Austrag des politischen Meinungsstreits. Dieser Streit selber jedoch ist das Problem. Der immer wieder zu hörende Hinweis, daß der Bundestag ein Arbeitsparlament sei, daß alle wichtigen Fragen in den Ausschüssen behandelt würden, die Tatsache, daß die Mehrzahl der Abgeordneten sich als Spezialisten versteht und zu den großen, die Allgemeinheit bewegenden Themen niemals das Wort ergreift: das alles zeigt den noch immer fortwirkenden Vorbehalt gegen das Parlament als Arena der politischen Rede an.
In seinen ersten Legislaturperioden entwickelte sich der Bundestag durchaus gegen dieses deutsche Erbteil, und ich habe bereits darauf hingewiesen, worauf das vor allem zurückzuführen war: auf die traumatischen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre, die keinen verschont gelassen hatten, wo er auch stand. Die Handbücher des Bundestags verzeichnen, mehr oder minder deutlich, zahlreiche Brüche und Widersprüche in den Biographien, wie widersprüchliche Zeiten sie unvermeidlicherweise hervortreiben.
Die Lebensgeschichte des Preisträgers von heute ist dafür exemplarisch. Wer sie im Ganzen aberblickt, kann darin alle großen Themen der Epoche wiederfinden: schon in jungen Jahren die Wendung gegen die Jahrhundertpsychose der Despotie, als in der Zwischenkriegsepoche eine ganze Zeit an der Demokratie irre wurde und den totalitären Evangelien mehr zutraute als den umständlichen Prozeduren verfassungsgemäßer Entscheidungsfindung. Dann Widerstand und Emigration, Rückkehr und wiederum Widerstand, nun gegen die andere Gewaltherrschaft vom bedrohten Berlin aus. Selbstbehauptung zwischen den Blöcken. Die Suche nach Ausgleichslösungen, Entspannungen nach außen vor allem, aber dann auch, auf gesellschaftlichem Feld, nach innen. Europäische Einigung mit dem Ziel, mehr daraus zu machen als eine Sache Brüsseler Technokraten. Zugleich, immer stärker nach vorn rückend, die Probleme der Umweltbewahrung. Die Sorge um den Abstand zwischen den wohlhabenden und den bis heute stetig weiter zurückfallenden Nationen. Schließlich doch noch, kaum mehr erwartet, der Zusammenbruch jenes anderen Gewaltsystems mitsamt der Einigung der Nation und der Wiedererlangung ihres Rechts auf Selbstbestimmung.
Dies alles sind nur Stichworte, bei weitem nicht vollständig, und hinzu kommt, daß viele von ihnen Willy Brandt nicht etwa von der Tagesordnung der Jahre aufgegeben wurden. Vielmehr hat er selber nicht weniges davon in freier Entscheidung zu seinem und damit zum öffentlichen Gegenstand gemacht, unablässig treibend, sich exponierend, werbend. Auch täuscht die Aufzählung eine Folgerichtigkeit vor, die es im gelebten Leben nicht gibt. Denn da ist keine unsichtbar leitende Hand, auch wenn es manchmal so scheint. Sondern alles ist Entscheidung, abgerungene Einsicht, ein Ergebnis von Oberlegung, Unbeirrbarkeit in den Maßstäben und dem Mut zu sich selber.
Blättert man die verschiedenen Erinnerungsbände durch, die Willy Brandt verfaßt hat, so treten diese Zage schon in der Zeit der Emigration deutlich hervor. Es waren im Grunde Lehrjahre. Aber wie in fast allen Biographien von Bedeutung ist die Persönlichkeit schon vorhanden, bevor es, dem bloßen Lebensalter nach, die Persönlichkeit gab. Im Deutschland der zu Ende gehenden Republik von Weimar hatte Willy Brandt der SPD den Rücken gekehrt, weil sie ihm so viel verbales Pathos mit einer resignativen Praxis verband. Statt dessen war er einer linken Splittergruppe beigetreten, die zwar marxistisch strenggläubiger war, sich aber auch energischer der heraufziehenden Diktatur widersetzte. In Skandinavien, mit dem geweiteten Buick, den das Leben in der Fremde verschafft, tat er, wie er selber bemerkt hat, jene "doktrinären Eierschalen" nach einiger Zeit ab. Er löste sich von dem Glauben, daß Demokratie nur ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus sei und Freiheit kein Wert an sich, sondern lediglich ein "Abglanz von Gleichheit". Dort hat er gelernt, wieviel ideologische Voreingenommenheit in dergleichen steckte und im Rückblick, nicht ohne Ironie, vom "politischen Dilettantismus" seiner Jugendjahre gesprochen. Im ganzen hat ihn die Emigration, in der tätige Hilfe weit wichtiger als alle Scholastik war, aber auch der Reformismus der skandinavischen Sozialdemokratie zu der Einsicht geführt, daß lebensferne Heilskonzepte ebenso zu meiden seien wie aller ideenlose Pragmatismus. Das eine führte in die Irre inhumaner Glücksdiktate, das andere in den Leerlauf des politischen Betriebs. Die Imprägnierung seiner sozialistischen Grundüberzeugung mit christlichen und humanistischen Vorstellungen hat er selber bei Gelegenheit als den Ertrag jener Jahre bezeichnet. Es war so etwas wie der Dritte Weg, den er damals schon fand und nach dem bis heute so viele noch immer auf vergeblicher Suche sind. Gleichzeitig haben jene Jahre auch seinen Blick ins Offene geweitet, so daß er über Grenzen hinwegsah, über die geographischen im Raum wie die historischen in der Zeit, und die größeren Zusammenhänge zu erfassen lernte.
Vielleicht läßt sich alles das, was damit angedeutet ist, als die Einsicht zusammenfassen, wie wenig die universalen Gewißheiten taugen, sobald es um die Menschen selber geht; daß die großen Schreibtischtheorien die Wirklichkeit ignorieren und der einzelne nicht Erlösung erwartet, sondern das, was Willy Brandt später "Compassion" genannt und als "Mit-Leidenschaft" übersetzt hat. Solche Begriffe nahm er durchaus ernst, sie waren keineswegs intellektuelles Spielmaterial. Vielleicht blieb er deshalb auch frei von allem Remigranten-Ressentiment, man meint sogar, ihn habe in der Wirklichkeit des Nachkriegs-Deutschland, in dem ja weit mehr als die Städte zerstört waren, nicht einmal ein Anflug davon gestreift. Versucht man, die Lehre jener Jahre auf einen Begriff zu bringen, so war dies wohl die große Entdeckung: daß die Realität, ihre Wahrnehmung oder auch Anerkennung, der Ausgangspunkt allen politischen Handelns sei.
Die Formel, die darin anklingt, gehört indes in eine spätere Zeit. Die Wende, die zunächst zum Zuge kam, fällt in die Berliner Jahre. Margret Boveri hat von einer Diskussion im Berlin des Jahres 1947 berichtet, auf der eine Anregung Ferdinand Friedensburgs erörtert wurde, zur Pariser Außenministerkonferenz Deutsche aus allen vier Besatzungszonen als Beobachter zu entsenden - als ein junger Mann aufstand und mit der Begründung widersprach, er könne Vertreter der Ostzone nicht als Deutsche ansehen. Es war Willy Brandt. Und Margret Boveri schließt die viele Jahre später, zur Zeit der Ostverträge, geschriebene Betrachtung mit der Bemerkung, Willy Brandt sei danach einen weiten Weg gegangen. Aber es sei der Weg gewesen, den die Deutschen im ganzen zurücklegen mußten.
Und so immer wieder. Vielleicht hat kein Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik so viel untrügliches Gespür für die Wendepunkte gezeigt, die sich, den meisten noch verborgen, im historischen Prozeß einstellen. Die ein Umdenken verlangen, den Verzicht aufs bisher Geltende, aber auch dem entschlossenen Zugriff eine Chance eröffnen. Wir alle
waren Zeuge, wie Willy Brandt am 1. September 1989, in der Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsausbruchs, die Politik der kleinen Schritte far beendet erklärte und den Beginn einer neuen Zeit ansagte. Und während die Partei noch die eingeübten Zweistaatlichkeitsthesen weiter memorierte und alle Mühe hatte, den Blick von Mailand oder Florenz nach Leipzig zu wenden, war er schon jenseits der Elbe unterwegs, um dem Überschwung, der Unruhe und doch auch der Ratlosigkeit, die da plötzlich hervorbrachen, einen ersten politischen Grund zu geben.
Irgendwo las ich, daß Willy Brandt eine Neigung und eine Vorliebe dafür habe, unablässig neu anzufangen. Das war womöglich sogar als Einwand gemeint. Aber es umfaßt doch auch die Fähigkeit, die Dinge mit unverbrauchtem Blick zu sehen und Gestriges als überholt, sogar als Irrtum zu erkennen. Auch sich selbst zu ändern. Das Besondere ist aber, daß Willy Brandt bei allen Neuanfängen nie den Eindruck des Schwankens in den Grundsätzen gemacht hat.
In der Tat zählt die Konstanz im Prinzipiellen, bei so vielen taktischen Umwegen, wie er sie zu gehen hatte, zu den auffälligsten Zügen des Politikers Willy Brandt. Selbst seine entschiedenen Gegner zur Zeit der Neuen Ostpolitik haben nicht in Zweifel gezogen, daß er ein Mann des Westens und frei von allen Versuchungen war, verlorengegangene ideologische Sentiments wiederzubeleben, was sie nicht jedem seiner Parteigänger zugestanden. Das machte er nicht nur durch die stete Kernthese glaubhaft, daß die Ostpolitik auf der von Adenauer ins Werk gesetzten Westpolitik basiere und das Land ohne die Verankerung im europäisch-atlantischen Bündnis in Gefahr gerate, zwischen den Systemen umherzutaumeln; vielmehr ging es far jeden halbwegs bei Sinnen urteilenden Beobachter aus seinem ganzen Wesen, seinen Überzeugungen und Maßstäben hervor.
Zwar hat Willy Brandt einmal von seiner Abneigung gesprochen, "aus der persönlichen Vergangenheit zu leben". Aber das war, wenn ich es richtig lese, eher gegen die verbreitete Neigung gesagt, die Vergangenheit nach Gutdünken als Berufungstitel ins Spiel zu bringen. Es machte j a nicht eine einzige Erfahrung ungeschehen. Nicht, daß er zu keiner Zeit der totalitären Versuchung erlegen war, die vielen Zeitgenossen so zu schaffen gemacht hatte; nicht das Entsetzen, mit dem er im Spanischen Bürgerkrieg die Ausrottungsaktionen beobachtet hatte, die moskauhörige Kommunisten in den eigenen Reihen veranstalteten; nicht die Jahre in Berlin mit Blockade, 17. Juni und Mauerbau sowie der Lehre aus alledem, sich niemals einschüchtern zu lassen; und auch nicht die fast schon vollzogene Wendung zur Demokratie als Ziel und zu geordneter, gerechter Freiheit als immerwährender Aufgabe. Ja, mitunter meint man, der Satz Willy Brandts masse viel eher umgedreht werden, weil gerade er wie wenige andere eben aus seiner persönlichen Vergangenheit gelebt habe.
Das mag sich wie eine Trivialität anhören. Denn wir alle sind von unseren Vergangenheiten geprägt. Aber im Blick auf Willy Brandt schien mir immer, als schlage das Persönliche in allem Reden und Tun stärker durch als bei anderen. Nur daß er es, wiederum stärker als viele andere, verstanden hat, das Erlebte, die Enttäuschungen und Rückschläge, von denen keiner verschont bleibt, nicht zum Komplex werden zu lassen, sondern verarbeitete Erfahrung daraus zu machen. Es gibt in der Politik, mehr als in sonstigen Lebensbereichen, einen Zwang zur Konformität, zur Verleugnung dessen, was den einzelnen unverwechselbar macht. Willy Brandt ist, bis zum Außenseiterischen, immer er selber geblieben. So leidenschaftlich er far eine Sache eintreten konnte, verlor er sich doch nie darin, und schon gar nicht in den Positionen oder der Macht, die ihm im Laufe der Jahre zuwuchsen. Das gilt auch für seine Stellung innerhalb der eigenen Partei. Er war ganz unstreitig ein Mann (und Lange Zeit sogar, in diesem oder jenem Sinne, der erste Mann) dieser Partei. Dennoch blieb, ohne daß man allzuviel Scharfblick benötigte, immer ein Abstand spürbar. Nie jedenfalls gewann man den Eindruck, er könne in den Ämtern und in den Rollen, die sie ihm aufnötigten, ganz und gar aufgehen.
Das hat nicht nur mit dem Gewicht im Persönlichen zu tun, das einer hat oder nicht. Weit eher kommt es aus der Skepsis, die ja weniger, als viele meinen, nur einfach eine Form des Zweifels ist, sondern Einsicht in die Begrenztheit der Möglichkeiten und in die Fragwürdigkeit des Erfolgs. Man hat von Willy Brandt selbst in den Augenblicken, da er sich an einem gesteckten Ziel sah, keine lauten Töne gehört, und das der Rechthaberei, das zu den Hochstunden eines Politikerlebens zählt, hat er offenbar nie empfunden. Gerade im Gelingen gab er sich nicht selten von einer fast erkältend wirkenden Nüchternheit, seine Reden konnten dann leicht wie Rechenschaftsberichte wirken, und was rhetorisch daran war, war eher eine Rhetorik der Nachdenklichkeit.
Nicht wenige, vor allem aus seiner politischen Umgebung, haben in diesem ständig reflektierenden Verhältnis zum eigenen Tun und nicht zuletzt zur Macht eine Schwäche des Politikers Willy Brandt gesehen. Vielleicht ist das so. Und vielleicht hatten sie, von ihrer Sicht der Dinge her, recht, wenn sie Anstol3 nahmen an seiner Gelassenheit, seinem Verzicht auf nur gewollte Härte, an seiner mitunter fehlenden Micksicht auf das bloß parteiliche Interesse, auch an dem, was sie seine "elegischen" Anwandlungen nannten. Unübersehbar war, zumal in den späteren Jahren, wieviel Überwindung der Kampf ihn kostete, und oft hat er sich erst mit dem Rücken zur Wand dazu bereit gefunden, dann aber auch die Stärke eingesetzt, über die er gebot.
Aber daß Willy Brandt war, wie er war, hat ihm Respekt und Bewunderung, weit über das eigene Lager hinaus, verschafft. Selbst in zwei Kulturen, der sozialistischen und der bürgerlichen, zu Hause, hat er die überfällige, als blinder Reflex weiterwirkende Distanz zwischen der einen und der anderen weitgehend beseitigt. Gleichzeitig hat er, was ich gern zu seinen Verdiensten zähle, gegen alle jahrelang herabsetzenden Angriffe, ein Bewußtsein dafür verbreitet, daf3 die Emigration während der Hitlerjahre eine persönliche Entscheidung war, die sich auf politische und moralische, in jedem Fall auf ehrenhafte Motive berufen konnte. Seine bedeutenden Leistungen sind jedem bekannt. Wenn man aber von seinen unauffälligeren Verdiensten redet, wird man auch zu erwähnen haben, da13 er Teile der jungen Generation an die Politik herangeführt hat. In der Sprache, die er sprach, den Zielen, zu denen er sich bekannte, sahen sie nicht nur die eigenen Hoffnungen aufgenommen. Vielmehr offenbarte ihnen dies und anderes eine Verbindung von Autorität und Menschlichkeit, die sie im Politischen zu oft vermißten. Selbst zu jenen Gruppen, die sich in den Verstiegenheiten der achtundsechziger Jahre verloren und dem deutschen Kardinallaster der Wirklichkeitsentfremdung ergeben hatten, suchte er den Anschluß herzustellen.
Erstaunlich bleibt, daß ein trotz aller geselligen Züge so einzelgängerischer Mensch wie Willy Brandt auf politischem Feld, das ein extrovertiertes Naturell verlangt, nicht nur so hoch steigen, sondern auch so viele Einverständnisse zur breiten Öffentlichkeit herstellen konnte. Was neben vielem anderen dafür vor allem ursächlich war, ist sicherlich seine rednerische Gabe. Die Zeit verlangt vom Politiker die Beherrschung unterschiedlicher rhetorischer Ausdrucksformen: des spontanen Einwurfs, der abgewogenen Stellungnahme, der Lagebeurteilung, des strategischen Entwurfs und anderes
mehr. Die Behauptung hat nichts Überraschendes, daß Willy Brandt über alle diese Mittel gebietet. Er hat darüber hinaus zahlreiche Bücher geschrieben, die, im Unterschied zum gängigen Politikerbuch, weit mehr enthalten als das, was der Tag abwarf und der Buchbinder zusammenfügte. Aber sein eigentliches politisches Medium war stets die Rede.
Zwar meinen manche, es sei zu viel Zögern darin, zu viel lübisch-norddeutsche Bedächtigkeit und hörbare Anstrengung des Gedankens, der sich gleichsam erst im Sprechen artikuliere. Aber solche Einwände verkennen wohl, worauf es dem Redner Willy Brandt immer ankam: nämlich im allmählichen, sich scheinbar abmühenden Vortrag etwas von den Schwierigkeiten anschaulich zu machen, die sich allem zuletzt einfach und überzeugend Klingenden in den Weg stellen. Wieviel Gedankenarbeit dem vorausgehen muß. Das paßt auch zu seiner Überzeugung, daß politischen Erfolg nur haben kann, wer es sich nicht leichter, sondern schwerer macht als andere, wie er noch in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender im Juni 1987 äußerte. Auffälligerweise sind denn auch die entscheidenden Partien all der abwägend vorgebrachten Satzbildungen, die eigentlichen Botschaften des Redners Willy Brandt, mit einer starken, seltsam gepreßt wirkenden Energie gesprochen und mit einer die Sache abschließenden Entschiedenheit. Streckenweise und wie um die Rede auch unterhaltend zu machen, gibt es aber auch entspannte Passagen, in denen umgangssprachliche, nicht selten sogar saloppe Wendungen vorkommen, die dem rhetorischen Comment eigentlich fremd sind. Das eine wie das andere belegt, daß die politische Rede weit mehr Ausdrucksmöglichkeiten kennt, als sich die Schulweisheit der Rhetorik-Seminare träumen läßt. Auch die großen, beschwörenden Auftritte in der Manier des Volkstribunen fehlen nicht. Ich selber erinnere mich, es war, wenn mein Gedächtnis nicht trügt, im November 1956 nach
der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, wie Willy Brandt vor dem Schöneberger Rathaus eine aufgebrachte Menge beruhigte, die dabei war, zu einer Demonstration nach Ostberlin zu ziehen. Und wie er seine beschwichtigenden Appelle , vom Dach eines Polizeiwagens aus, bei denen, die schon auf dem Wege und nahe dem Brandenburger Tor waren, mit heiser werdender Stimme noch mehrfach wiederholte. Es waren Meisterstücke abwiegelnder Rhetorik, die zu Beginn den Zorn und die Empörung der Leute fast zu überbieten schienen, aber dann unmerklich ins Besonnene übergingen, die Gefährlichkeit von Gefühlswallungen darstellten und den Zwang zu politischen Lösungen - bis die Menge Vernunft annahm und nach Hause zog. Aber wie Willy Brandt Emotionen herabstimmen konnte, hat er wie kein anderer Politiker auch Emotionen zu wecken verstanden. Allenfalls Franz Josef Strauß kam ihm darin gleich, auch wenn es ein Behr andersartiger Gefühlsgrund war, aus dem er sprach und den er weckte. Gerade der Vergleich mit Franz Josef Strauß macht aber eine Besonderheit der Brandtschen Rhetorik erkennbar. Natürlich konnte er, wie er das selber wohl genannt hat, auch "holzen". Davon rede ich nicht. Aber während sich bei Strauß in den ausladenden, zu großen Entwürfen verdichteten Deutungen fast stets der Eindruck einstellte, hier werde ein ungewöhnlicher Scharfsinn aufgeboten, um Gefühlsentscheidungen mit Gründen auszustatten, lagen die Dinge bei Brandt eher umgekehrt. Seine Gründe folgten meist vernunftbestimmter Überlegung, und alle rhetorische Emphase war das Mittel, die Öffentlichkeit auf die gewonnene Einsicht einzuschwören.
Auf diese Weise hat er große Anhängerschaften mobilisiert und einmal, Anfang der siebziger Jahre, sogar eine Aufbruchstimmung erzeugt wie niemals wieder. Dagegen sind damals auch Bedenken geäußert worden, und ich will einräumen, daß sie mir nicht fremd waren, soweit sie sich auf manche Pointiertheiten der Auseinandersetzung bezogen. Die Sache dagegen, die das Kernstück des leidenschaftlichen Meinungsstreits ausmachte: der Ausgleich oder doch die Herstellung eines erträglichen, durch Abmachungen geregelten Nebeneinanders mit dem Osten war lange überfällig und hatte nicht nur die Vernunft, sondern auch ein starkes moralisches Argument zur Seite. Mit allem übrigen, das dabei mit im Spiel war, ging es, wie es mit Stimmungen zu gehen pflegt: sie verflogen bald oder schlugen in Desinteresse und sogar Enttäuschung um, die eigene Partei nicht ausgenommen. Sie sogar am wenigsten ausgenommen. Mitunter konnte man meinen, sie sei der Integrationskraft ihres ersten Mannes überdrüssig und dränge ungeduldig darauf, all den zentrifugalen Tendenzen wieder Raum zu geben, die ihr seit ihren Anfängen, lange Zeit zurück , einmontiert scheinen.
Willy Brandt kam bei seinen Wirkungen auf die Öffentlichkeit immer auch ein besonderes Sprachempfinden zugute. Seine Reden waren nicht nur frei von abstraktem Ballast und von den Geschwollenheiten, die angesichts der Akademisierung im politischen Milieu um sich greifen. Vielmehr mieden sie auch all die entnervenden Versatzfloskeln, die so viel zur Entfremdung zwischen Politik und Publikum beitragen. Seine Formulierungsgabe hat ihm nicht selten Sätze eingegeben, die eine Aussicht haben, in die Bücher einzugehen. So hat er die Erfahrung beim Mauerbau, als die Indolenz der Alliierten ihm unvermittelt die Augen öffnete für die Fatalitäten der eigenen Lage und ihn zum Umdenken zwang, in die Bemerkung gekleidet: "Der Vorhang zerriß, und die Bühne war leer." Zur Ostpolitik, soweit die Sowjetunion die Furcht vor den Deutschen als Disziplinierungsmittel für ihre Satelliten eingesetzt hatte, hat er die Formel gefunden: "Wir haben die antideutsche Karte aus dem Spiel genommen." Und nicht ausgelassen werden kann natürlich die eine oder andere Wendung während des Einigungsprozesses. Am berühmtesten: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", ein Satz, den Willy Brandt schon am Tag nach der Maueröffnung formulierte. Oder, wenige Wochen später, beim Gründungsparteitag der SPD der DDR in Leipzig: "Der Zug zur Einheit rollt. Jetzt kommt es darauf an, daß niemand unter die Räder kommt." Vielleicht liest man diese Mahnung heute anders als zu Beginn des Jahres 1990. Aber sie schloß sicherlich ein, was viele unterdessen mit wachsendem Unbehagen angesichts einer Debatte empfinden, in der begreifliche Empörung auf der einen Seite mit Selbstgerechtigkeit , Kommerz und instrumenteller Moral auf der anderen eine unselige Verbindung eingehen, und die um so besorgniserregender ist, als sie nicht auf die eigentlichen Täter, sondern weit mehr auf die von ihnen Genötigten zielt. Ein innerdeutscher Ost-West-Konflikt bahnt sich an, der Schlimmes befürchten läßt. Er kann dazu führen, daß die Nation, deren Zusammengehörigkeitsgefühl vierzig Jahre der Trennung überstand, paradoxerweise jetzt, nach der politischen Vereinigung, psychologisch doch noch auseinanderbricht.
Die treffenden, oft bildhaften und einprägsamen Formulierungen machen den Redner Willy Brandt aber nicht aus. So wenig wie die Bedächtigkeit seiner Rhetorik, die Energie, der Ton der Stimme und was sonst noch an eher formalen Eigentümlichkeiten dazugehört. Ihre besondere Überzeugungskraft kommt zuletzt aus nichts anderem als ihrer Glaubwürdigkeit. Immer wurde in allem, was er sagte, die ganze Person sichtbar, Erfahrungen von lange her, Zweifel, Irrtümer, errungene Einsichten, kurz, ein Leben mit allem, was es durchzustehen hatte. Wenn sich im Gegeneinander der Meinungen die sachlichen Argumente erschöpft hatten, war dies das Gewicht, das oft den Ausschlag gab. Es ist auch der gewachsene Grund, aus dem jene Moralität kommt, die Willy Brandt inzwischen von allen Seiten zugestanden wird und die in der Verleihung des Friedens-Nobelpreises auch weltweit Anerkennung gefunden hat.
Diese Moralität hat in einer großen, die Welt beeindruckenden Geste Ausdruck gefunden. Vielfach wird, teils kritisch, teils besorgt, die Gesichtslosigkeit unseres Staatswesens empfunden, die Klage darüber ist so alt wie die Republik: über ihren Mangel an einprägsamen Bildern, an Auftritten, die mehr als bloße PR-Manöver sind, an Zeugnissen zeitgerechter Würde. Wer zurückdenkt, wird gleichwohl auf einige Beispiele dafür kommen: Adenauers Accolade mit Charles de Gaulle in Reims, die eine Epoche sogenannter Erbfeindschaft abschloß, zählt dazu, die Nacht von Mogadischu mitsamt der bewegenden Rede Helmut Schmidts im Bundestag und gewiß der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto. Er hat sich dem Bewußtsein tief eingeprägt, unverlierbar für alle, die Zeuge davon waren, und vermutlich lange darüber hinaus. Nicht aus diesem Anlaß, aber zeitlich in engem Zusammenhang damit, hat Willy Brandt einmal bemerkt, jetzt erst sei Hitler besiegt. Man versteht unschwer, warum er es nicht nach dem Kniefall von Warschau gesagt hat. Aber das war die wirkliche Bedeutung dieses Tages und dieser Geste: daß sie im Symbol sichtbar machten, wie ferngerückt und einer überwundenen Epoche zugehörig Hitler ist, auch wenn sein Schatten noch lange über allem liegen wird; und daß die Deutschen dies wüßten und gerade deshalb zu einem neuen Anfang bereit seien.
Es ist in jüngerer Zeit oft die Rede von einem krisenhaften Verhältnis zwischen Politik und Öffentlichkeit. Jeder weiß, daß es sich dabei im Kern um eine Glaubwürdigkeitskrise handelt. Der Preis, den wir heute vergeben, soll nicht nur einen Redner auszeichnen, der die politische Rhetorik als Kunst beherrscht. Er soll vielmehr, ganz im Sinne Dolf Sternbergers, ein Bewußtsein dafür verbreiten, daß zum bedeutenden Redner noch anderes gehört als bloße Wortmächtigkeit. Die ist nur eine Voraussetzung. Dahinter muß mehr zum Vorschein kommen. Es ist viel, wenn dabei, in einer Zeit der unendlichen Sachzwänge und Abhängigkeiten, ein menschlicher Charakter sichtbar wird, wie er sich nur aus innerer Freiheit bildet. Wenn die Bereitschaft erkennbar wird, zu sich selber zu stehen. Auch Partei zu sein, ein Interesse zu vertreten, und doch den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren. Wo und solange es das gibt, braucht niemand sich um die Glaubwürdigkeit der Politik zu sorgen.
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