Dolf Sternberger-Preis für öffentliche Rede 2010, Feier der Vergabe an Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert in Heidelberg am 4. Dezember 2010
Laudatio von Bundesminister a. D.
Dr. Erhard Eppler
Sehr geehrte Damen und Herren,
I. Ich bitte Sie alle, besonders den Herrn Bundestagspräsidenten,
um Verzeihung dafür, dass ich diese Laudatio beginne mit ein
paar rühmenden Worten auf einen Mann, der vor 27 Jahren
gestorben ist, ohne den ich aber heute nicht vor Ihnen stünde.
Ich meine Gerhard Storz.
Für Sie alle ist er zuerst einer der beiden Mitautoren Dolf
Sternbergers, die unmittelbar nach Kriegsende in der "Wandlung"
die NS-Sprache analysiert und gewertet haben. Daraus ist dann
1946 das "Wörterbuch des Unmenschen" geworden.
Gerhard Storz, 9 Jahre älter
als Dolf Sternberger, kam 1935
an die "Oberschule" – so hieß
das damals – in Schwäbisch
Hall, nachdem er zwölf Jahre
am Theater gearbeitet hatte,
zuletzt am Mannheimer Nationaltheater.
Dort war ihm der
Boden zu heiß geworden, nachdem
Josef Goebbels persönlich
ihn im Visier hatte.
Der Leiter der Abteilung
U III im Stuttgarter Kultusministerium,
seit den frühen
20-er Jahren und 1935 immer noch – ein Dr. Bracher, der
Vater des Historikers Karl-Dietrich Bracher, schickte den
Altphilologen und Germanisten Storz nach Schwäbsch Hall,
weil diese Kleinstadt, einst eine stolze Reichsstadt, sich durch
eine für NS-Verhältnisse relativ liberale Atmosphäre auszeichnete.
So wurde Storz mein Deutschlehrer, später auch mein
Lateinlehrer.
Im Sommer 1940, als in Deutschland der Blitzsieg über
Frankreich als die große Stunde des nationalen Triumphes
gefeiert wurde, las Gerhard Storz mit uns, den 14-jährigen angehenden
Helden, von Gottfried Keller "Spiegel, das Kätzchen",
während er, wie ich heute weiß, in der Frankfurter Zeitung
unter einem Pseudonym am Begriff "Raum" die nationalsozialistische
Geopolitik auseinandernahm. Wir merkten, dass diese
Lektüre eine Provokation war. Wir wussten, dass dieser Lehrer
die Nazis verachtete, aber keiner hat ihn je denunziert, auch
kein Schüler der Oberstufe, wo Storz Faust oder Wallenstein
interpretierte oder auch deklamierte vor 18-Jährigen, die an
manchen Tagen sogar in der Uniform eines Fähnleinführers vor
ihm saßen. Sto, wie wir sagten, gehörte zu uns, ohne ihn wären
wir ärmer gewesen.
Erst im Herbst 1944, als über seine Verbindungen zum 20. Juli
gemunkelt wurde, hat ein gnädiger Stabsoffizier des Heeres den
46-Jährigen zum Heer eingezogen und damit aus dem Verkehr
gezogen, so dass er irgendwo in Italien überleben konnte. So
verließ er im Oktober 1944 das schöne Hall in demselben Zug,
der mich nach dem "Abstellurlaub" zur Truppe zurückbrachte.
Dieser außergewöhnliche Pädagoge, von dem wir Schwaben
staunend erfuhren, was ein perfektes Bühnendeutsch ist, war
wieder da, als meine Klasse ab November 1945 nach beinahe
zwei Jahren Flak, RAD und Wehrmacht das Abitur nachholen
musste. So drückten wir, die wir überlebt hatten – jeder vierte
fehlte – wieder die Schulbank.
Nun konnte Storz uns sagen, was er immer gedacht hatte. Er
wurde für mich der erste glaubwürdige Demokrat. "In der
Diktatur ist der Mensch für den Staat da", sagte er uns. Das war
unsere unvergessene Erfahrung. "In der Demokratie ist der Staat
für die Menschen da". Das war unter Besatzungsherrschaft als
Praxis nicht zu erfahren. Aber ihm, Storz, glaubten wir.
Gerhard Storz hat mit uns auch über seine Aufsätze für die
"Wandlung" gesprochen. Nicht alle waren daran interessiert. Ich
war fasziniert. Er hat in mir das geweckt, was man Sensibilität
für Sprache nennen kann. Deshalb haben Sie mich eingeladen.
II. Die Älteren unter uns erinnern sich daran, dass, vor allem
in den Sechzigerjahren, gescheite Linguisten dem "Wörterbuch
des Unmenschen" mit dem ganzen Instrumentarium ihrer
Wissenschaft zuleibe rückten. Sie mochten in ihrer Einzelkritik
oft Recht haben, aber ich hielt ihre Methode für mindestens
ebenso fragwürdig wie die von Sternberger, Storz und Süskind.
Es stimmte ja, dass nicht jeder Krankenschwester, die guten
Gewissens eine krebskranke Frau betreute – und dazu auch
"betreuen" sagte -, deshalb der Sprache des Unmenschen aufgesessen
war. Ich sah auch ein, dass die Unterscheidung Mensch –
Unmensch keine durchhaltbare Norm für die kritische Analyse
einer Sprache war. Aber was mich von den meisten Linguisten
trennte, war mein Ja zu Sternbergsers Überzeugung, dass man
an Sprache sehr wohl normativ herangehen, sie an einer Norm
messen kann. So wie jede Politik sich ihre Sprache schafft,
macht solche Sprache dann auch Politik, fragt sich nur, welche.
Die bequeme Formel, was immer sich an Sprache herausbilde,
beziehe sein Existenzrecht daraus, dass es entstanden, vorhanden,
üblich sei, hat mir nie eingeleuchtet.
Als ich vor knapp zwanzig Jahren, von Carl Gustav Jochmann
beflügelt, eine politische Kritik der politischen Sprache wagte,
wurde ich von gestandenen Linguisten eingeladen. Sie machten
mir sogar ein paar Komplimente, um mir dann am Ende lächelnd
zu versichern: "Aber Wissenschaft ist das natürlich nicht."
Ich habe dann mehrere Jahre lang Linguistikprofessoren
darum gebeten, zwischen ein paar Linguisten und politischen
Sprachkritikern die Frage zu diskutieren, ob es eine Sprachkritik
geben könne, die einerseits gesellschaftlich relevant sei –
was die Linguistik nicht ist – und auf der anderen Seite das
Prädikat der Wissenschaftlichkeit verdiene. Die Diskussion ist
nie zustande gekommen.
Damit wären wir bei dem tückischen Graben zwischen
Wissenschaft und Politik, von dem auch der heutige Preisträger
sein Liedlein singen kann, so wie vor ihm Dolf Sternberger.
Brücken über diesen Graben habe ich in vielen Jahrzehnten
nicht gefunden.
Dass Helmut Kohl Dolf Sternberger, in dessen Seminar er
gesessen hatte, einen eindrucksvollen Mann nannte, der aber
von Politik rein gar nichts verstehe, dürfte unseren Preisträger
insofern trösten, als das "political animal" Helmut Kohl auch
der Meinung war, Norbert Lammert wäre wohl besser in der
Wissenschaft geblieben. Allein der Tatbestand, dass Norbert
Lammert nicht, wie manch anderer, in den Graben zwischen
Politik und Wissenschaft gefallen ist, dass er als Weitspringer
mehr als einmal diesen Graben ohne Verletzung überquert
hat, ist preiswürdig. Damit Sie verstehen, warum ich hierin
schon eine bewundernswerte Leistung sehe, noch eine eigene
Erfahrung: Ich habe vor einem guten Jahrzehnt in einem Buch
den Luhmannschen Begriff des Politischen, der Politik, mit
eigenen politischen Erfahrungen verglichen und ihn dann in
Frage gestellt, und dies im Suhrkamp-Verlag, den ja auch
Wissenschaftler nicht meiden. Keiner der Luhmannianer hat
je darauf repliziert. Was Politik ist, wissen nur diejenigen,
die keine machen. Für die Brücke, ja für einen bescheidenen
Steg zwischen Wissenschaft und Politik fehlen, zumindest in
Deutschland, die Fundamente, und zwar auf beiden Seiten des
Grabens. Man kann ihn nur mit sportlichem Mut überspringen.
Norbert Lammert hat darin Übung.
III. Nun aber zum Redner Lammert. Wo ist die Norm für eine
Bewertung? Nicht ganz im Ernst habe ich mir überlegt, ob der
Herr Bundestagspräsident denn wohl das "Wörterbuch des
Unmenschen" gelesen, seine Urteile sich zu Herzen genommen
habe. Insgesamt wohl schon. Aber dann bin ich auf ein Wort
gestoßen, das im NS-Staat, zumal gegen sein Ende, nicht nur
in Reden, auch in Dokumenten und Befehlen zu Tode geritten
wurde, auch wenn nur Schulkinder nach Kartoffelkäfern
suchten: Das Wort "Einsatz".
Ich gestehe, dass ich, als braver Schüler von Gerhard Storz, dieses
Wort seit 64 Jahren meide. Ich zitiere die ach so anstößige
Stelle allerdings nur, um zu zeigen, wie solche Art normativer
Kritik danebengehen kann.
"60 Jahre nach der Gründung zweier deutscher Staaten und zwanzig
Jahre nach dem Fall der Mauer … würdigen wir mit besonderer
Hochachtung den Einsatz der vielen tausend Menschen
in der damaligen DDR, die in einer beispiellosen unblutigen
Revolution politische Bevormundung und Entmündigung überwunden
… haben".
Ich weiß nicht, ob Dolf Sternberger oder Gerhard Storz widersprechen
würden, wenn ich sage: Hier hat das Wort sogar
seinen guten Sinn. Es knüpft nicht an beim NS-Jargon, sondern
an Schillers Reiterlied, dem einzigen großen Soldatenlied
deutscher Zunge: "Und setzet Ihr nicht das Leben ein – nie wird
Euch das Leben gewonnen sein." Hier geht es um den Einsatz
bei einer Wette: Man setzt ein – in diesem Fall das Leben -,
kann gewinnen, aber auch verlieren. Die Frauen und Männer,
die am 9. Oktober 1989 aus der Nikolaikirche in Leipzig strömten
und alle, die sich ihnen anschlossen, wussten ja nicht, ob das
Politbüro den Schießbefehl wagen würde. Sie setzten ihr Leben
ein, um ein Leben in Freiheit zu gewinnen. Sie hätten dieses
Leben auch verlieren können.
Wie also gewinnen wir einen Maßstab, mit dem wir den Redner
Norbert Lammert messen können? Ohne zu behaupten, dies sei
der einzig mögliche, werde ich im Folgenden fragen: Wie verhält
sich der Stil seiner Rede zu der Aufgabe, in die er gewählt
worden ist?
Der Präsident des Deutschen Bundestages repräsentiert ein
Verfassungsorgan, ohne das es keine Gesetze, aber auch keine
Regierung geben kann. Die Exekutive leitet ihre Legitimität
ab vom Votum des Bundestags. Weil die Vertreter des Volkes,
vom Volk unmittelbar gewählt, sich in ihrer Mehrheit für einen
Kanzler oder eine Kanzlerin entschieden haben, kann eine
Regierung gebildet werden. Der Bundestag vertritt den Souverän,
von dem alle Staatsgewalt ausgeht, und er verleiht auf Zeit
exekutive Macht. Grund genug für einiges Selbstbewusstsein,
aber eben nur solange, wie der Souverän mit seinen Vertretern
zufrieden ist, sich von ihnen vertreten fühlt. Das ist nun eher
ein Grund zur Vorsicht, ja zur Bescheidenheit, zumal heute,
wo Konflikte manchmal als solche zwischen "denen da oben"
und "uns da unten" erlebt und gedeutet werden. Der Präsident
des Bundestages sollte also so reden, dass die Exekutive aufhorcht,
die Abgeordneten sich kollegial angesprochen fühlen
und die interessierten Bürgerinnen und Bürger ihn verstehen.
Und damit der Souverän überhaupt etwas davon erfährt, was
der Repräsentant seiner Repräsentanten zu sagen hat, muss der
Präsident die Aufmerksamkeit der Medien wecken.
IV. Lassen Sie uns Norbert Lammerts Rede zur Konstituierung
des 17. Deutschen Bundestages am 27. Oktober 2009 daraufhin
durchsehen, wie sie diesen sehr unterschiedlichen Erfordernissen
gerecht wird.
Zu Beginn bedankt sich Norbert Lammert für ein gutes Ergebnis bei
seiner Wahl, zuerst erstaunlicherweise bei seiner eigenen Fraktion, "die mich trotz gelegentlicher Neigung zur Selbständigkeit und
Hartnäckigkeit … für dieses Amt erneut vorgeschlagen hat – in
Kenntnis des Risikos, dass das so bleiben wird."
Natürlich verzeichnet das Protokoll Heiterkeit im Plenum.
Der Präsident hat das, was er für seine Pflicht hält, selbstironisch
zu einer abseitigen "Neigung zu Selbständigkeit
und Hartnäckigkeit" herabgestuft und gleichzeitig angekündigt,
dass er sich nicht zu bessern gedenke. Die Kollegen seiner
Fraktion haben verstanden und die der Opposition auch. Und
die Hausfrau, die Phönix eingeschaltet hat, dürfte auch gelacht
haben.
Dann macht der Präsident das Hohe Haus darauf aufmerksam,
dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Eröffnung
des Parlaments im Hauptprogramm nicht übertragen. Und er
fügt hinzu, was gesendet wird. In der RAD die Komödie
"Schaumküsse", im ZdF die 158. Folge von "Alisa – Folge
deinem Herzen". Lammert findet dies so "bemerkenswert",
dass er es anmerken muss, und spricht davon, wie heute "ein
gebührenpflichtiges Fernsehen mit einer souveränen Sturheit
der Unterhaltung Vorrang vor der Information einräumt." Das
ist deutlich, und es findet Beifall im ganzen Hause. In weiser
Vorausschau, dass der Beifall der Medien, zumal der betroffenen,
verhaltener sein wird, fügt der Präsident hinzu: "Da
die Chefredaktionen in ihren Entscheidungen so frei sind wie
ich in meinem Urteil, kündige ich an, dass ich bei jeder ähnlichen
Gelegenheit erneut vortragen werde. Das "Vortragen"
klingt ein bisschen bürokratisch, etwas nach dem "Vortragenden
Legationsrat" im alten Auswärtigen Amt, aber es ist gewollt
blass. Lammert will auch künftig tun, was er für seine Pflicht
hält. Angelsachsen nennen so etwas "understatement".
Im Folgenden tröstet der Präsident die Fraktionen der Opposition,
die dies auch nötig hatten, wenn auch nicht alle so dringend
wie die größte Oppositionsfraktion. Dann kommt er darauf zu
sprechen, dass Abgeordnete zwar keineswegs alle denselben
Einfluss hätten, wohl aber gleiche Rechte und Pflichten. Darauf
wolle er achten. "und wenn nötig in Erinnerung rufen, dass wir
gewählt, aber nicht gesalbt sind". Das hatte Willy Brandt vier
Jahrzehnte zuvor schon ähnlich gesagt: "gewählt, aber nicht
erwählt". In einer Zeit, in der das ganz und gar demokratiewidrige
Reden von der "politischen Klasse" üblich geworden ist,
darf und soll der Bundestagspräsident daran erinnern. Ob die
folgende Mahnung ganz ins Schwarze trifft, mag man bezweifeln:
"Wir sind nicht das Volk, sondern die Volksvertretung".
Als auch nach altem Recht volljähriger Parlamentarier – ich
habe 21 Jahre in Parlamenten verbracht – glaube ich nicht, dass
Mitglieder des Bundestags allzu sehr versucht sind, sich mit
dem Volk zu verwechseln – dem ja immer noch eine Mehrheit
der Abgeordneten ein Votum in der Sache nicht zutraut -, dass
sie sich eher zu denen zählen, die als politische Profis sehr viel
besser wissen "als die Menschen draußen", was zu tun ist. Aber
richtig ist sicher: die Abgeordneten sind nicht der Souverän, sie
sollen ihn nur vertreten.
Dann beklagt der Präsident die sinkende Wahlbeteiligung und,
als einen der Gründe dafür, den viel zu schlechten Ruf, den
das parlamentarische System in Deutschland genießt, auch
im Vergleich zu anderen Verfassungsorganen. Diesen anderen
Organen der Verfassung mangle es nicht an Selbstbewusstsein,
etwa dem Verfassungsgericht. Die Zurufe: "Sehr wahr!" zeugen
davon, dass viele im Bundestag sich schon darüber geärgert
haben, dass dieses Gericht dazu neigt, seine Kompetenzen
auch auf Kosten des Gesetzgebers auszuweiten. Zu ihnen
gehört wohl auch der Präsident, denn er wird noch deutlicher:
"Er – der Bundestag – entscheidet, ob und wo und in
welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland nationale
Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft oder an internationale
Organisationen zu übertragen bereit ist, nicht die
Gerichte. Sie sind weder für die Politik zuständig noch für die
Gesetzgebung." Das ist die präziseste und gleichzeitig die härteste
Kritik, die man am Lisabon-Urteil des BVG üben kann.
Nach meiner Überzeugung eine dringend nötige. Was wird aus
einem Staat, wenn ausgerechnet das Verfassungsgericht sich
Kompetenzen anmaßt, die in der Verfassung nicht vorgesehen
sind? Wer kann es daran hindern? Und wem steht solche Kritik
dann eher zu als dem Präsidenten des Parlaments?
Was der Präsident sonst noch zu sagen hat, sind Anregungen
für die parlamentarische Arbeit, für Fragestunden, gegen
die Neigung, Reden zu Protokoll zu geben, für das Recht,
Gesetzentwürfe der Bundesregierung zu korrigieren. Hier
spricht der Kollege zu den Kollegen, unmissverständlich, aber
auch nicht moralisierend.
V. Vergleiche ich diese Rede mit dem, was mir von den
Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier bis Annemarie
Renger in Erinnerung geblieben ist, dann ist sie weniger feierlich,
weniger pathetisch, aber immer klar, auch beim Understatement.
Konflikte werden benannt. Man darf sich ärgern, etwa als
Richter in Karlsruhe. Die anderen Verfassungsorgane horchen
auf, die Abgeordneten hören zu, gespannt, wer als nächstes
etwas abbekommt. Man darf sogar lachen. Und die Bürgerinnen
und Bürger verstehen alles. Und sie merken: Hier spricht einer,
der sich als Repräsentant unserer Repräsentanten versteht.
Zu dieser Rede passt durchaus, wenn Norbert Lammert gelegentlich
ungefragt hart und unmissverständlich zu Einzelfragen
Stellung nimmt: Etwa, als er die Absicht der Bundesregierung,
die Laufzeit der Atomkraftwerke am Bundesrat vorbei zu
verlängern, mit der Bemerkung kommentiert, dies sei "kein
Geniestreich". So haben es vielleicht einige Juristen empfunden,
stolz, einen Schleichweg gefunden zu haben. Der Präsident
des Bundestages findet es eher anstößig, wenn die Regierung
einen großen gesellschaftlichen Konflikt neu eröffnet, gegen
die Mehrheit der Bevölkerung, und dann auch noch auf eine
rechtlich anfechtbare Weise.
So hat dieser Präsident auch als "Zumutung" eingestuft, wie
die Bundesregierung die einschlägigen Gesetze unter Zeitdruck
durch den Bundestag peitschte. Eine Zumutung ist etwas,
was man nicht wieder erleben will. Der Mut, das nächste Mal
vorher, nicht nachher zu widersprechen, steckt in dem Wort.
Man darf – oder muss – dem Präsidenten diesen Mut zutrauen.
Ich habe die Rede zur Eröffnung des 17. Bundestages ausgewählt,
weil es sich hier um eine Aufgabe handelt, die nur
ihm, dem Präsidenten obliegt, für die aber auch nur er, kein
Redenschreiber, den angemessenen Stil finden kann. Natürlich
kann er sich orientieren an seinen Vorgängern. Aber das hindert
Norbert Lammert nicht daran, dem Ganzen eine sehr persönliche
Note zu geben. Hier spricht ein Präsident mit der Autorität
seines Amtes, aber nicht irgendeiner, sondern der Präsident
Norbert Lammert. Was er zu sagen hat, wie er es sagt, ist stimmig,
es stimmt überein mit den Pflichten des Amtes und ist
geprägt von einer unverwechselbaren Person.
VI. Damit kein Missverständnis aufkommt: Wir reden hier
nur über eine von vielen Formen politischer Rede. Wer vor
5000 Menschen seine Anhänger motivieren will, redet anders,
er wird zum Beispiel mehr Verben benutzen und weniger
Substantive. Wer eine Regierungserklärung abzugeben hat, wird
sich Ironie oder gar Selbstironie kaum leisten können. Wer
als Oppositionssprecher darauf zu antworten hat, ist gehalten,
ja gezwungen, Gegensätze herauszuarbeiten und zuzuspitzen.
D i e politische Rede gibt es nicht.
Allerdings gibt es Schwächen, die in jeder Form von politischer
Rede auftauchen können: Zum einen inhaltslose Abstrakta,
kunstvoll aneinandergereiht: "Die Zuspitzung der Lage" –
wie soll sich eine Lage zuspitzen? – "erfordert angemessene
Maßnahmen, um eine stetigere Entwicklung einzuleiten" –
wobei Gerhard Storz darauf verwiesen hätte, dass sogar der
um-zu-Nebensatz grammatikalisch falsch sei. Ich erwähne solche
verbreiteten Schwächen vor allem deshalb, weil ich sie
in den Lammert'schen Texten vergebens gesucht habe. Sie
gehören übrigens nicht ins Wörterbuch des Unmenschen, eher
ins Wörterbuch des Bürokraten.
Eine andere Gefahr, die allen Formen politischer Rede droht, sind
Kunstwörter, erfunden und verbreitet von Interessentengruppen,
die – erst in den Vereinigten Staaten, dann auch bei uns – ihre
Ziele bewusst über die Sprache anpeilen. Sie gehören in das
Wörterbuch des Lobbyisten. Ein Beispiel: Als ich vor knapp
50 Jahren in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, kannte
ich das Wort "Leistungsträger" noch nicht, auch nicht, als ich
aus dem Bundestag ausschied. Dieses Wort gehört nicht zu
den vielen, die ein Substantiv mit einem damit verwachsenen
Verbum verbinden. Wer viel auf Berge steigt, wird eben ein
Bergsteiger, wer von Beruf Fenster putzt, ein Fensterputzer und
wer Reden schreibt, ein Redenschreiber. Zum Leistungsträger
müsste jemand werden, der Leistung trägt. Den gibt es aber im
Deutschen nicht. Leistung wird erbracht oder gar vollbracht,
nicht getragen. Das deutet auf eine bewußte Erfindung zu
einem erkennbaren Zweck. Dieser Zweck ist eine bestimmte
Steuerpolitik. Und nur in diesem Zusammenhang wird das
Wort gebraucht. Wenn die tüchtigen, wichtigen, sicher auch
erfolgreichen, aber eben doch unter der Last ihrer Leistung
seufzenden Männer – von Leistungsträgerinnen ist nie die
Rede – schon so schwer an Leistung zu tragen haben, dann soll
man ihnen nicht auch noch Steuerlasten aufbürden. Mit diesem
Wort wird übrigens auch etwas bewirkt, was in den letzten drei
Jahrzehnten üblich geworden ist: Leistung und Erfolg werden
gleichgesetzt. Die alleinerziehende Mutter, die putzen geht und
trotzdem ihren drei Kindern ein warmes Nest baut, in dem sie
gedeihen können, ist schon deshalb keine Leistungsträgerin,
weil sie meist keine direkten Steuern bezahlt. Und doch lebt
unsere Gesellschaft nicht zuletzt von solcher Leistung.
Ich hoffe, wir werden im nächsten Jahrzehnt ein Wörterbuch
des Lobbyisten bekommen. Den – hoffentlich jungen – Autoren
könnte ich Politiker nennen, bei denen sie fündig werden.
Norbert Lammert gehört nicht dazu.
VII. Ziemlich zu Beginn dieser Laudatio habe ich meinen
Respekt bekundet vor dem Weitspringer Norbert Lammert,
dem Sportsmann, der immer wieder unverletzt den abgründigen
Graben zwischen Wissenschaft und Politik überspringt. Jetzt
muss ich Ihnen ein Geheimnis dieses Spitzensportlers verraten,
das mir einer der vielen privaten Geheimdienste zugetragen hat,
die man heute mieten kann:
In seiner kurzen Sporthose – die er sich bei seiner Figur leisten
kann – ist rechts hinten eine kleine Tasche. Darin versteckt
und transportiert er handgeschriebene Zettel. Springt er von
der Politik in die Wissenschaft, so steht auf den Zetteln, wie es
wirklich zugeht in Berlin, wie die Kohls, die Schröders oder auch
die Merkels wirklich ticken. Auf einem Zettel steht ein einziges
Wort: "Eitelkeit". Auf einem anderen schlicht: "Karrierismus".
Auf einem dritten: "Macht um der Macht willen". Auf einem
vierten: "Die Demoskopenplage". Und so fort.
Von diesen Zetteln profitieren dann die Studenten des
Honorarprofessors, der damit natürlich nicht die Wissenschaft
von vergleichbaren Makeln freisprechen will. Schließlich legt
der Herr Honorarprofessor Wert auf die Mitteilung, dass er
immer wieder schriftlich versichern muss, er werde nie ein
Honorar verlangen. Manchmal ist aber auch die Wissenschaft
nicht nur der Wahrheit verpflichtet.
Springt der Athlet von der Wissenschaft wieder zur Politik, so
steht auf den Zetteln nur selten, wie es dort im Idealfall zugehen
müsste, wohl aber, wie es auf keinen Fall zugehen darf.
Auf einem Zettel steht "Das Parlament ist kein Klavier, auf
dem die Regierung ihre Lieblingsmelodien spielt". Oder "Auch
Verfassungsrichter sind nicht frei von Machtgelüsten". Oder
"In der Demokratie darf es Konflikte geben zwischen links und
rechts. Kapital und Arbeit, niemals zwischen ‚denen da oben' und
‚denen da unten'."
Von solchen Zetteln profitiert nun unsere Republik. Sie führen
dazu, dass ein Bundestagspräsident rechtzeitig "vorträgt", also
sich ohne Pathos, aber unmißverständlich und unüberhörbar zu
Wort meldet, wenn er glaubt, dass etwas gründlich schiefläuft. So
wird der Repräsentant der Repräsentanten zum Seismographen
der Republik.
Wer keine Angst mehr hat vor dem Graben, in dem schon viele
verhungert sind, lässt sich auch von ungnädigen Mienen im
Kanzleramt nicht einschüchtern. Wer sich angewöhnt hat, in der
Wissenschaft das alltägliche Gerangel der Politik nicht zu vergessen
und in der Politik wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zu verleugnen,
weiß auch, dass alle produktive, weiterführende Politik,
alle Politik, die mehr sein will als das tägliche Durchwursteln, in
der Spannung steht und von der Spannung lebt zwischen dem,
was ist und dem, was sein soll. Dass solche Politik immer beides
gleich ernst nimmt. Er weiß auch, dass Politik nie am Ende, nie
am definitiven Ziel sein kann, weil diese Spannung, zumindest
für politisch sensible Menschen, immer bleibt.
Wer gelernt hat, in
dieser Spannung zu
leben, weiß auch,
dass niemand in
allen Feldern der
Politik zuhause
und damit für alles
zuständig sein kann,
dass es also darauf
ankommt, an dem
Ort, an den einen
das politische Kräftespiel – meist in Form einer Wahl – hingestellt
hat, das zu tun, das zu leisten, was an dieser Stelle im
Interesse des gemeinen Wohls und das heißt auch: einer lebendigen,
verfassungstreuen Demokratie getan, geleistet werden muß.
Dass Sie dies auf vorbildliche Weise tun, Herr Bundestagspräsident,
macht Sie zu einem würdigen Träger des Dolf-
Sternberger-Preises.
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